Was ist ein gesunder Narzissmus?

Die Bipolarität des Kleinheits- und Größenselbst

Die kompensatorische Überhöhung des Selbst als grandioses Selbst hat eine Tradition in der psychodynamischen Theorie, welche diese Haltung als Entwicklungsprozess auf dem Boden eines hoch verletzlichen, kränkbaren Kernselbst sieht. Das grandiose Selbst ist also quasi ein Schutzschild, aufgebaut auf Stärken im Machtmotiv, im Leistungs- und Erfolgsstreben, das verletzliche Persönlichkeitsanteile ausgleicht.

Dieses grandiose Selbst hat viele Gesichter. Dazu gehören die selbstgefällige Attitude als Überspielen der Selbstunsicherheit und die Intoleranz eigenen Fehlern gegenüber. Beispiele dafür sind der rigide, selbstbewusste Intellektuelle, der die Bildungsmacht als Waffe einsetzt, der Philosoph, der sich in abstrakten Höhen verliert, die nicht mehr nachvollziehbar sind, der machtpolitisch besessene Politiker und Diktator, die Unfehlbarkeit des Papstes, die

Selbstidealisierung des Gurus, die Halbgötter in Weiß. Bei all diesen und anderen Typologien finden wir mehr oder weniger verdeckt die hohe Verletzlichkeit und Kränkbarkeit. Die geringen Toleranzbreiten können wiederum korrespondieren mit den Grenzüberschreitungen von der Höchstleistung zur Grandiosität. Diese Grenzzone ist fließend von der besonderen Leistung zur Allmachtfantasie, eine Grauzone, mit der wir uns in diesem Buch auf vielen Feldern menschlicher Entfaltung und Leistung beschäftigen werden. Hier verlässt auch das Genie die Bodenhaftung und gerät wie Ikarus in den Bann der Sonne, verkörpert in dem Bild des tiefen Falls nach dem Höhenflug.

Was ist ein narzisstisches Gleichgewicht?

Wir verstehen einen stabilen Selbstwert als eine belastbare Größe, die nicht unverletzlich, aber quasi unbesiegbar ist und einen stabilen Kern im Selbstgefühl hat. Dieses Selbstgefühl ist in immerwährender dynamischer Entwicklung, es hat Stärken und Schwächen, stabile und fragile Seiten, sodass wir uns ein Leben lang damit beschäftigen, wie sich verletzliche Teile zu einem positiven Selbstgefühl entwickeln können. Im Lebenszyklus gibt es verschiedene Phasen, in denen wir unser Selbstgefühl, unser Selbstbild verändern und besonders vulnerabel sind. Hierzu gehören frühe Entwicklungsphasen im Kernselbst im Rahmen der Entwicklung der Bindungssicherheit, der Spiegelungsprozesse, von den Eltern als eigenständiges Individuum gedacht und geliebt zu werden. Besonders wichtig sind die Entwicklung der Schamregulation im dritten und vierten Lebensjahr, die Integration der Sexualität in der Pubertät, die Idealisierung der Liebe in der verliebten Beziehungsentwicklung. Die Expansion der Leistungsziele und die Auseinandersetzung mit dem Altern als narzisstische Kränkung sind weitere Beispiele. In jeder Phase gibt es eine besondere Verletzlichkeit, geht es um die Passungsfähigkeit der Selbstanteile wie die Versöhnung nach gescheiterten Zielen. Da hier nur einzelne Punkte herausgegriffen werden, wie narzisstische Dysregulationen möglich sind, ist es selbstverständlich, dass es sich um einen sehr großen Bogen der Selbstregulation mit vielfacher De- und Restabilisierung handelt, sodass es letztlich ein narzisstischer Anspruch wäre, hier eine nur annähernde Vollständigkeit darstellen zu können. Was schließlich zur narzisstischen Störung führt, ist die Überforderung der Integrationsfähigkeit des vulnerablen, fragilen Selbst mit dem idealen Selbst, das uns vorantreibt. Dieses Spannungsfeld, das uns seit Freuds Arbeit von 1914 unter vielfältigen neuen Perspektiven beschäftigt, besteht aus zahlreichen Bedingungen im fragilen Selbst wie im übersteigerten grandiosen Selbst. Die Funktionalität der Integrationsfähigkeit ist eine dritte Ebene, die zu einem gestörten Narzissmus und dann zu einer klinisch relevanten Persönlichkeits-

störung führen kann.

Stabiler Narzissmus

Die gesunde oder besser stabile narzisstische Regulation zeichnet sich aus durch eine Kontinuität und Stabilität im Selbsterleben, eine gute Selbstabgrenzung und Flexibilität in der Anpassung. Der nach außen gewendete Narzissmus kann flexibel für die gesunde Selbstdarstellung eingesetzt werden. Die Anpassung an die Umgebung ist geschmeidig, ohne diese der eigenen Meinung, Gefühlshaltung unterzuordnen. Abbildung 8.1 zeigt, dass der stabile Narzisst Verletzlichkeit vermeidet, jedoch prinzipiell zulassen kann. Hierin liegt die Fähigkeit zu Abhängigkeit, Bindung, Anlehnung, Trauer und Beziehungsfähigkeit. In Stresssituationen ist er in der Lage, kompensatorisch Höchstleistung abzurufen, welche die Gefahr in sich birgt, dass diese suchtartig fortgeführt wird und andere Lebensbereiche übergangen werden, wie viele der dargestellten Beispiele bezeugen.

Robuster Narzissmus

Der robuste Narzisst spaltet sein verletzliches Selbst ab und muss dadurch sein grandioses Selbst expansiv ausbauen. Sein Selbstwertgefühl ist jedoch stabil, sodass er realitätsangepasst das grandiose Selbst steuern kann. Er schützt sich dadurch vor Selbstwertkrisen, tiefen Selbstzweifeln oder Suizidalität. Die verletzlichen Seiten werden jedoch häufig auf Personen der Umgebung projiziert.

Beispiel: Erfolgsstreben und Selbstwert in der Teamarbeit Auf der positiven Seite kann das uneingeschränkte Erfolgsstreben eines Chefs Mitarbeiter in einer positiven Grundeinstellung beflügeln. Die positive Beteiligung am Erfolg kann selbstwertstärkend sein. Häufig findet man aber auch das Phänomen, dass der Teamleiter den Erfolg nur auf sich bezieht und die „Sahne des Ruhms“ abschöpft. Dieses nicht wahrgenommene egozentrische Verhalten führt häufig dazu, dass sich die Mitarbeiter ausgebeutet fühlen und tiefgreifend gekränkt sind. Die geringe soziale Empathie kann auch dazu führen, dass Teammitglieder den Leistungsdruck mit Freudlosigkeit, Distanz und einer zunehmenden inneren Kündigung beantworten.

Der robuste Narzissmus erweist sich jedoch flexibel und adaptiv und kann Entwicklungen korrigieren, da ein ausreichend stabiles Selbstwertgefühl vorliegt.

Pathologischer Narzissmus, narzisstische Persönlichkeitsstörung

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder Persönlichkeiten mit ausgeprägten narzisstischen Zügen kompensieren ihr hoch ver-

Abb. 8.1 Formen des Narzissmus. Diese vier Typen sollen als Markierungen verschiedene Ausschnitte aus dem Kontinuum narzisstischer Regulation zwischen Verletzlichkeit und ignoranter Empathielosigkeit, Arroganz mit Verachtung und Entwertung aufzeigen. Die gestrichelte Linie verweist auf die Durchlässigkeit und Integrationsfähigkeit verletzlicher und grandioser Selbstanteile. Die durchgezogene Linie stellt die Abspaltung dar. Während die Extremwerte klinisch-pathologische Fälle darstellen, spielt sich im Bereich der narzisstischen Persönlichkeitsanteile eine Dynamik ab, die unter bestimmten Stresskonstellationen häufig narzisstische Persönlichkeitsanteile an die Oberfläche treten lassen. So reicht das Spektrum im grandiosen Bereich vom übertriebenen, sichtbaren Selbstbezug (Egozentrik) („Alle denken nur an sich, nur ich denke nur an mich“) über narzisstische Neurosen (Geltungsdrang) bis zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung und dem malignen oder destruktiven Narzissmus (Sadismus, Straftaten, Manipulationstendenzen). Durch die oft spektakulären Fälle im destruktiven Narzissmus ist insgesamt die Begrifflichkeit und Bedeutung des Narzissmus negativ konnotiert

letzliches Selbst durch ein überzogenes, rigides und grandioses Selbst. Das verletzliche Selbst bleibt gespalten und wird durch eine äußere Schale der Unverletzlichkeit kompensiert. Der pathologische Narzisst toleriert keine Selbstkritik, verachtet sich bei Schwäche, wird unter Stress rigide und versucht, auf Kosten anderer eigene Interessen machtvoll durchzusetzen und bei anderen Schwächen zu induzieren (Beispiele s. u.).

Vulnerabler Narzissmus

Der vulnerable Narzisst zeigt einen kleinen Bereich des sehr stabilen Selbstwertgefühls. Dieses wird ständig angegriffen durch das nicht stabil abgewehrte, verletzliche Selbst. Das grandiose Selbst ist in der Regel durch Fantasien ausgestaltet, findet jedoch verdeckt statt, sodass nach außen häufig die Selbstunsicherheit, Depressivität und Ängstlichkeit dominiert. Die Abwehr in der Form „Angriff ist die beste Verteidigung“, die Kränkung anderer, der Abbruch von Beziehungen sind getragen von Entwertungsimpulsen, die sich als narzisstischer Persönlichkeitsanteil definieren (Beispiele s. u.).

Um die meist verdeckten narzisstischen Anteile wahrzunehmen, ist es sinnvoll, bestimmte Facetten der Persönlichkeit des Narzissten zu beurteilen. Hilfreiche Fragen für die Klärung narzisstische Persönlichkeitsanteile wurden von Dammann (2012) formuliert:

• Kann jemand bei Problemen differenziert auch eigene Anteile sehen oder nicht?

• Kann jemand Fehler zugeben und sich entschuldigen (Wiedergutmachungen)?

• Weist ein Lebenslauf eine bestimmte Kontinuität auf?

• Übt die Person eine starke Faszination aus?

• Hat die Person langjährige Mitstreiter und Freunde?

• Hat jemand angefangene Projekte, Studiengänge usw. beendet, auch wenn es schwierig oder langweilig wurde?

• Kann jemand auch die Leistungen anderer voll würdigen?

• Wie beziehungsfähig erscheint jemand auch im privaten Bereich?

• Entsteht ein Gespräch oder bleibt es bei einem Monolog?

Ein Mensch mit ausgeglichenem Selbstbewusstsein, Selbstliebe und Selbstakzeptanz ist in seinem Gleichgewicht gut abgefedert. Anders sind die im Kern Verletzten und Verunsicherten, die sich bedroht fühlen. Diese fokussieren fast permanent auf das eigene Selbst, leiden unter Ignoranz, fühlen sich oft nicht genügend beachtet oder angegriffen.

 
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