Wie entsteht ein kohärentes Selbst?

Wenn wir von dem grandiosen Bild des selbstverliebten Narzissmus ausgehen, so ist dieser neben den ausgelebten oder fantasierten Grandiositätsvorstellungen charakterisiert durch ein Gefühl der Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit, einhergehend mit Neid auf andere, die im Besitz eines Selbstwertes sind. Dann müssen Modelle gefunden werden, die zum Verständnis dieser Verletzlichkeit, dieses sich unwert und nichtig Fühlens, beitragen. Modelle bedeuten eine Vereinfachung, Erklärungsmuster, die immer beinhalten, dass bei der Ausprägung von Entwicklungsstörungen viele Faktoren, auch Schutzfaktoren wie Temperament, Intelligenz und die Fähigkeit, unterstützende Personen zu finden und innerlich zu etablieren, ineinanderwirken.

Was heißt Spiegelung?

Im ersten Lebensjahr erfolgt die Affektabstimmung zwischen Baby und Bezugsperson. Sie basiert auf Feinfühligkeit und muss ein feines Wechselspiel von Resonanzen, aber auch Dissonanzen haben, wodurch Spannungsfelder entstehen. Das drei Monate alte Kind kann mit seinem Lächeln ein Lächeln in das Gesicht der Eltern zaubern. Es findet es interessant, mit dem Fuß ein Mobile in Bewegung zu setzen oder ein Geräusch mit einer Rasselkette zu erzeugen. Diese Selbstwirksamkeit ist die Basis des inneren Antreibers, immer mehr, immer Differenzierteres bewirken zu können. Mit dieser Macht über das Außen geht aber auch eine Ohnmacht einher – die Ohnmacht der Abhängigkeit, die bewusst wird, wenn am Ende des ersten Lebensjahres mit der Motorik die erste Trennung von der Mutter möglich und damit die Trennungsangst aktiviert wird. Diese Trennungsangst aktiviert wiederum das Bindungssystem und erhält die Bindung. Das Bindungssystem ist eine Basis für Sicherheit, Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit der Reaktion des anderen, ein Nährboden, auf dem auch die Selbstwirksamkeit mit Experimentierlust weiter entfaltet werden kann:

• Die zentrale adaptive Funktion der Bindungsdynamik besteht darin, durch das Interaktionsgeschehen das optimale Niveau positiver Zustände und vitaler Affekte zu erzeugen und aufrechtzuerhalten.

• Die Widerstandskraft eines kleinen Kindes besteht in der Fähigkeit von Kind und Eltern, den Übergang von einem positiven zu einem negativen und zurück zu einem positiven Affekt zu bewerkstelligen.

• Widerstandsfähigkeit angesichts von Stress ist ein bedeutsamer Indikator der Bindungsfähigkeit.

Parallel zur Trennungsangst läuft aber auch das erhöhte Selbstgefühl, wenn sich das Krabbelkind zum Laufkind entwickelt. Die Erfahrung, stehen zu können, schafft ein von den Eltern als beglückend erlebtes Grandiositätsgefühl, welches mit dem Kind geteilt wird. Die Bewunderung für das motorische Geschick wie auch für differenziertere Geschicklichkeitsspiele, zum Beispiel etwas verschwinden zu lassen und wiederzuentdecken, ist ständig präsent. Vor allem bei Mädchen kann beobachtet werden, wie sich die Zeigelust entwickelt, in den hochhackigen Schuhen der Mutter zu stolzieren, sich einen Schal umzulegen oder einen Hut aufzusetzen. Die Resonanzen werden dann auch „als Glanz im Auge der Mutter“ als Metapher beschrieben, indem die Freude über Fortschritte, der geteilte Stolz und der Erwerb der Fähigkeit mit Anerkennung und Bewunderung gespiegelt werden. Die Frustrationen, die von misslingenden Experimenten, Stürzen und anderen Hilflosigkeiten ausgelöst werden, werden als normale Grenzerfahrung betrachtet und tröstend von den Eltern begleitet.

Anders am Ende des zweiten Lebensjahrs, in dem in den Trotzphasen die nach außen gerichtete Aggression und die Hilflosigkeit von den Eltern begrenzt werden. Nun zeigen die Eltern frustrierendes und begrenzendes Verhalten dem Kind gegenüber, was besonders kränkbare Kinder als Ablehnung ihrer Person interpretieren, sei es, weil sie schon in den vorausgegangenen Phasen durch Bindungsunsicherheit fragiler und verletzlicher sind als andere, oder auch, weil sie eine Disposition zu besonderer Verletzlichkeit haben.

In dieser motorisch aggressiven Phase, die einen guten Umgang mit Grenzen von den Eltern abverlangt, kann jedoch auch die Aggressionssteuerung der Eltern scheitern und in Gewalt umschlagen. Es ist eine Gewalt, die dem Trotz nicht mehr adäquat begegnet, die willkürlich durchbrechen kann, die das Kind als schwierig ausgrenzt und es als Blitzableiter in eine ohnmächtige Position bringt. In der Folge hat das Kind Schwierigkeiten, die Kontrolle der eigenen Aggression zu erlernen. Während das Kind also mit einer Spiegelung der Grandiosität in das zweites Lebensjahr startet und gleichzeitig die Eltern idealisiert, kommt es zu Bruchlinien in der Idealisierung und die Selbstwertregulation beginnt einen lebenslangen, konflikthaften Passungsprozess zwischen Selbst und Umwelt. Wenn nun eine Annäherung zwischen ohnmächtigem Selbst und idealem Selbst gelingt, dann entstehen gleichzeitig eine Kränkungstoleranz und ein stabiles Selbst.

Zusammengefasst ist die Basis eines kohärenten Selbst die Bindungssicherheit, die eine bessere Kränkungstoleranz und Konfliktfähigkeit in Beziehungen ermöglicht. Sie ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung eines stabilen Selbstwerts. Sie bietet inneren Halt bei Verlust- und Verlassenheitssituationen. Dieser innere Halt wiederum schützt vor zu großen Abhängigkeiten. Die Bindungssicherheit ermöglicht die Selbstwirksamkeit, sich Trost und Beruhigung zu holen, und sie erhöht damit die Stresstoleranz.

Welcher Erziehungsstil fördert den Selbstwert?

Das Kind bleibt aber noch lange Zeit mit den Eltern fusioniert. Die Selbstgrenzen werden in Stufen errichtet. Fusionierung bedeutet, dass das Kind negative Emotionen nicht selbst regulieren kann und auf die beruhigende, tröstende Resonanz der Eltern angewiesen ist. In sozialen Biofeedbackreaktionen, wie sie Gergely und Watson (2004) nennen, gibt es Interaktionen zwischen Kind und Eltern, in denen die Erfolgserlebnisse mit Freude begleitet werden, Misserfolge und Frustrationen aber auch bis zu einem gewissen, tolerablen Maß ausgehalten werden müssen. Durch positive Erfahrungen mit Selbstobjekten (positive Abstimmung zwischen Kind und Elternfigur) integriert sich im Selbst ein Gefühl von innerem Zusammenhalt, Vitalität und Harmonie. Kohut (1979) beschreibt diesen Prozess der Integration zur Selbstkohärenz

als entscheidende Errungenschaft auf dem Weg zu einer reifen Persönlichkeit. Kränkungstoleranz und Frustrationstoleranz bedeuten bei der Entwicklung des Selbst immer auch, auf Grenzen gestoßen zu sein. Dabei kann elterliche Permissivität die Expansion des Selbst zu sehr fördern, um es dann mit härteren narzisstischen Kränkungen wieder auf den Boden herunterzuholen. Durch diese Wechselbäder werden Verletzlichkeit und kompensatorische Grandiosität wie auch narzisstische Wut stimuliert.

 
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