Wie scheitert die Spiegelung?

Die vernachlässigte Spiegelung durch die Mutter

Kohut (1979) beschreibt die normale Funktion der Idealisierung der Eltern für die Entwicklung des eigenen Selbstbewusstseins, welches sich durch Spiegelung entwickelt. Die Basis sind positive Achtung, Anerkennung und Erfüllung der Bedürfnisse des Kindes durch die Eltern.

Die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls kann in vielfältiger Weise gestört werden. So zeigen Untersuchungen zu Kindheitsbelastungen, dass die Überspiegelung durch die Großeltern, das Aufwachsen bei den Großeltern als Hauptbezugspersonen, ein Risikofaktor ist. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die Eltern jung und möglicherweise noch in der Berufsausbildung sind und noch nicht ausreichend Kraft, Reife und Zeit für das Kind haben. Die Großeltern können das Kind bedingungslos idealisiert lieben, sodass das Selbstwertgefühl für die späteren Kränkungen und Auseinandersetzungen, durch die sich das kindliche Selbst konstituiert und Grenzen bildet, geschwächt wird.

Beispiel Hans wird während des Studiums seiner Eltern geboren. Beide sind gerade 20 und mit der Erziehung überfordert. Sie geben das Kind bei den Großeltern mütterlicherseits ab, für die Hans nach drei eigenen Töchtern der ersehnte Enkelsohn ist.

Hans' Schwester Anna wird geboren, als er vier Jahre alt ist und die Eltern ihr Staatsexamen haben. Sie holen Hans wieder in die Familie zurück. In der Therapie lässt sich ein doppeltes Selbstschema konstruieren: das bedingungslos geliebte, idealisierte Selbst der Großeltern und das hinter der neugeborenen Schwester zurückstehende, sich den Anpassungsprozeduren und Kränkungen ausgesetzte Selbst des Vierbis Fünfjährigen. Hans fühlte sich rückblickend klein gemacht. Es kam zu verlängerten Trotzphasen mit dem Vater und zu ausgeprägten Machtkämpfen mit Idealisierung und Unterwerfung. Hans' Leben war charakterisiert durch narzisstische Krisen sowohl im beruflichen Bereich als auch bei der Gründung der eigenen Familie. Letztlich hat ihn seine Frau mit den beiden Töchtern wegen seiner Großspurigkeit, seiner Besserwisserei und seinen grenzüberschreitenden Annäherungen an die Töchter verlassen.

Wie hängen Scham und verletzlicher Selbstwert beim Kind zusammen?

Es dauert bis zum vierten Lebensjahr, bis sich das Kind, das sich nun selbst als Ganzes erfährt, abgegrenzt hat. Jetzt kann es sich im Spiegel auch perspektivisch selbst wahrnehmen und beginnt sich zu reflektieren (Kernberg 2006). Das bedeutet auch, dass das Kind Unterschiede wahrnimmt, es sich von den Wünschen der Eltern abgrenzt und sie gelegentlich enttäuscht, und dass mehr Konflikte auftreten. Das Schamgefühl reguliert nun als selbstbewertende Emotion, die Passung: Werde ich in meiner Familie wertgeschätzt, anerkannt oder fallengelassen. Das Kind schämt sich mit der Fremdscham, wenn die Eltern den vorgegebenen Normen, wie man zu sein hat, selbst in keiner Weise entsprechen. „Außen hui und innen pfui“ als Familienrealität ist eine Diskrepanz, die Fremdscham auslösen kann. Rigorose Familienregeln wie „Wer nicht unsere Normen einhält, unserer Meinung ist, unsere Gefühle teilt, gehört nicht mehr zu uns“ sind ein weiterer Hintergrund für die Schamsensibilisierung. Die narzisstische Regulation wird definiert durch die Passung zwischen Real- und Idealselbst. Diese Diskrepanz kann Schamgefühle auslösen, da Schamgefühle auch die Funktion haben, diese Diskrepanz zu lindern. Dies kann schwierig werden, wenn im Realselbst viele nicht akzeptierte Anteile des verletzlichen Selbst, des entwerteten Kindheitsselbst enthalten sind. Alles bisher Beschriebene, die Entwertungen, die unterdrückten Emotionen, die Identifikation mit den Projektionen der Eltern, schafft in der folgenden Entwicklung, besonders dann auch in der Pubertät, ein extremes Spannungsfeld. Wir können also zusammenfassen, dass das Schamgefühl für die Integration von Kleinheits- und Größenselbst von enormer Bedeutung ist. Es zwingt dazu, einerseits die Diskrepanz zu verringern, insbesondere die überhöhten Idealvorstellungen realistisch zu machen, und andererseits auch authentischer und den eigenen verletzlichen Seiten gegenüber toleranter zu werden.

Dieser damit immerwährende „Trauerprozess“, von seinen Idealen Abstand zu nehmen, zum Beispiel im Sport Niederlagen hinzunehmen, in der Schule

einen realistischeren Bezug zur eigenen Leistungsfähigkeit zu gewinnen, zu lernen, mit seinen Stärken und Schwächen zu leben, ist der Entwicklungsprozess der Ambiguitätstoleranz. Wenn diese Verbindung zwischen Kleinheitsselbst und Idealselbst nicht gelingt, liegt eine Spaltung zwischen absoluter Kleinheit oder Nichtigkeit und dem idealen Selbst vor – das sind Gegensätze, die nicht integrierbar sind. Hier beginnt die narzisstische Problematik, die einhergeht mit der Ambiguitätsintoleranz, also dem Nicht-akzeptieren-Können von Mittelmäßigkeit.

 
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