„Wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Unter diesem Titel begegnet uns die Geschichte des Neides. Wie bei jedem Affekt können wir konstruktive und negative Aspekte unterscheiden.
Der konstruktive Neid will etwas erreichen, was der andere hat. Er will den anderen nicht ächten oder vernichten, sondern mit glühendem Eifer den Wettbewerb suchen, konkurrieren, übertreffen. Er will sein wie er oder noch besser. Dieser Neid treibt zur Aktivität an. Neid und Missgunst vergleichen einen selbst mit einer anderen Person. Der Neidende beneidet materielle oder ideelle Güter, er nimmt die Verteilung als ungerecht wahr, sich selbst als benachteiligt. Der Geschwisterneid ist schon biblisch. Kain erschlägt seinen Bruder Abel, dessen Opfer von Gott mehr gewürdigt wird. Der Begünstigte hat alles, der Neidvolle ist ausgeschlossen.
Die Gefährlichkeit des Neides, der diesen destruktiv macht, durchzieht die Menschheitsgeschichte und alle Religionen. Die Mutter aller Sünden wird mit Verdammnis verfolgt.
Als die Königin den Spiegel befragt „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“, muss sie die grandiose Antwort hören, dass es jemanden gibt, der noch tausendmal schöner ist als sie: Schneewittchen, die inzwischen siebenjährige Tochter der verstorbenen ersten Frau des Königs. Daraufhin erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an hasste sie das Kind, wenn sie es erblickte. Vom Hass durchtränkt, beauftragt sie den Jäger, das Mädchen zu töten und ihr Lunge und Leber des Mädchens zu bringen. Das boshafte Weib inkorporiert die vermeintliche Leber und Lunge des Mädchens. Als sie erfährt, dass der Jäger sie betrogen hat, verfolgt sie das Mädchen mit weiteren Mordversuchen, um es zu beseitigen, um mit dessen Vernichtung ihr beschädigtes Selbstwertgefühl reparieren zu können. Bekanntlich überlebt Schneewittchen die Anschläge. Bei Schneewittchens Hochzeit wird ihr eine grausame Strafe zuteil. Sie muss in zum Glühen gebrachten eisernen Schuhen tanzen, bis sie tot umfällt.
Die Deutung des Märchens kann mehrschichtig sein: Die alternde Königin verliert im Altern die absolute Macht der Schönheit an die Jüngere. Der Narzissmus der Schönheit bezieht sich auf die Oberfläche, auf Vergänglichkeit und damit auf die grundsätzliche Notwendigkeit, narzisstische Kränkungen zu verarbeiten. Die Geschichte greift aber auch die narzisstische Kränkung der Ausschließung auf. Die Königin ist rasend vor Neid auf das Kind der toten Vorgängerin, die möglicherweise ihren Platz im Herzen des Königs behalten hat. So ist die neue Königin immer auch Ausgeschlossene beim König und dessen Tochter. Sie will sich an deren Stelle setzen, indem sie in die Eingeweide eindringt und hier ihren Platz erobert.
Der Vergleich, ohnmächtig unterlegen zu sein, zieht mörderischen Neid nach sich. Die Aussichtslosigkeit des ausgeschlossenen Geschwisters vom Muttersohn oder von der Vatertochter kann mit beißendem Neid einhergehen. Ein solch ruhelos verzehrender Neid kommt erst zur Ruhe, wenn der Rivale vernichtet ist. Erst dann ist sicher, dass Platz frei ist. Mit dem Vernichtungswunsch kann der Wunsch verbunden sein, etwas vom Beneideten zu haben, was man nicht hat, so wie die Königin die Eingeweide inkorporiert.
Was macht den Neid narzisstisch?
Die Königin konkurriert mit Schneewittchen um die Schönheit. Sie will jedoch nicht nur deren Schönheit, sie will diese als einzige besitzen, das macht den Neid narzisstisch.
Rasender Neid auf alles Bessere, Schöne, Vollkommene kann als Herostratos-Komplex beschrieben werden. Herostratos hat voller Neid auf die Architekten seiner Zeit den Artemis-Tempel in Ephesos, eines der sieben Weltwunder der Antike, niedergebrannt, um selbst berühmt zu werden.