Wie gefährlich sind suizidale Krisen?
Akute suizidale Krisen beruhen meist auf Verletzung des Selbstwertgefühls durch Kränkungen. Im Alter sind die zunehmende Abhängigkeit bei der Versorgung, die Bedrohung der Autarkie, des Einflusses und der Macht Grundlagen für die Kränkbarkeit. Das Gefühl der Verlorenheit und des Ausgestoßenseins kann die Sehnsucht verstärken, in der fantasierten Symbiose geborgen zu sein. „Ich wollte endlich Ruhe haben“, ist eine typische Äußerung des Suizidanten. Vom Suizid wird Spannungsfreiheit, ein Ende der Schmerzen und sanfte ewige Ruhe erhofft. Die Ohnmacht des Geschehenlassenmüssens in der Krankheit, im Siechtum, lässt den Suizid als eine aktive Lösung, als letzte
Selbstbestimmung wählen. Nur so lässt sich die Zeit anhalten und der Depression entkommen.
Beispiel Der 62-Jährige selbständige Unternehmer ist seit fünf Jahren an einem chronischen Lungenemphysem erkrankt. Er musste sein Hobby, die Fliegerei, aufgeben, hatte im Grunde nie wirkliche Freunde, tönte aber in Männercliquen als Macho und prahlte mit seinen sexuellen Eroberungen. Seine Frau verließ ihn, nachdem die Kinder selbständig waren, hatte aber ständige Schuldgefühle. Mit zunehmenden gesundheitlichen Krisen, die ihn immer wieder ins Krankenhaus brachten, war er zunehmend abhängig von seiner Frau. Er konnte sich nun nicht mehr mit Affären trösten und sie provozieren, sondern sah sich hilflos ausgeliefert. Er schikanierte sie, verweigerte jede Dankbarkeit. Dennoch war sie in ihren Trennungsschuldfühlen so massiv beeinträchtigt, dass sie, nachdem er nicht mehr arbeitsfähig war, beschloss, ihn zu Hause zu pflegen. Als er dies erfuhr, erlebte er eine massive Ohnmachtsattacke. Als seine Frau ihn dann am Abend das Essen kochen wollte, hatte er sich auf dem Wohnzimmersofa erschossen.
Der Suizid kam nicht überraschend. Er hatte dies immer als eine einzige Lösung angedeutet. Der Moment der Wiederannäherung brachte ihn jedoch in eine Abhängigkeitskrise. Die Ehefrau blieb nun in schwersten Schuldgefühlen innerlich an ihn gebunden, konnte sich in ihren Depressionen nur noch selbst den Tod wünschen und musste sich einer Therapie unterziehen.
Wirkt eine Therapie?
Da narzisstische Grandiosität ein Selbstschutz in Form eines Selbstheilungsversuchs ist, ergibt sich selten Leidensdruck, Behandlungsbedarf und Veränderungsmotivation. Der Leidensdruck kann aber auf verschiedene Weise entstehen:
• Der Preis für die Vollkommenheit im Leistungsbereich ist die Selbstausbeutung, das geringe Gefühl für sich selbst, die bedingungslose Unterwerfung unter Leistungs- und Machtideale, die Unfähigkeit, Ziele zu korrigieren, um damit mehr Gefühl für sich selbst zu haben.
• Im Prinzip „Leistung statt Liebe“ herrscht der Antagonismus von Macht/ Anerkennung und Beziehung/Abhängigkeit. Hier ist der Preis für die oberflächliche Bewunderung anstelle der Anerkennung in einer mitgefühlsgetragenen Beziehung die Einsamkeit.
• Leidensdruck entsteht durch Trennung, ausgelöste Verletzung im Kernselbst, konfrontiert mit Verlassenheit, Verletzung und Fallen-gelassen-Werden. Hieraus kann Panik, Suizidalität resultieren.
• In diesen meist krisenhaft ausgelösten Verletzungsbereichen sind auch die lebenszyklischen Umstellungsphasen Adoleszenz, Midlife-Crisis und insbesondere das Alter relevant. Die Fähigkeit der Selbststabilisierung durch Macht, Erfolg, Leistungsanerkennung und Bewunderung oder die Verherrlichung der Schönheit sind begrenzt. Alle Gratifikationen stehen im Alte-
rungsprozess zur Verarbeitung an und stellen auf den Prüfstand, inwieweit Trauer, Verlust und depressive Episoden zugelassen werden können.
Die Therapieerfolge werden heute gerade angesichts der Vielfalt narzisstischer Krisen, abgesehen von schweren Persönlichkeitsstörungen, als durchaus positiv gesehen.
Ausgehend von psychoanalytischen Forschungen Mitte der 1970er-Jahre zum robusten narzisstischen Typus (Kernberg 2006)und dem vulnerablen Typus (Kohut 1979), hat sich eine ungeheure Verzweigung der psychodynamischen Techniken zur Behandlung dieser Persönlichkeitsstörung weiterentwickelt. Diese richten sich vorrangig an der individuellen Situation der Verletzlichkeit aus, die, wie dargestellt, ein extrem unterschiedliches Spektrum haben kann. Menschen mit narzisstischer Verletzlichkeit sind sehr sensibel für die Genauigkeit des individuellen Verständnisses. Auch die eigenen Kränkungen vor dem Hintergrund unbewusster emotionaler Regulationsschwierigkeiten machen ihnen sehr zu schaffen. Dies erklärt, warum sehr viele Patienten Langzeittherapien und Psychoanalysen aufsuchen, um im Schutz einer vertrauensvollen Beziehung Sicherheit aufbauen zu können. Diese Entwicklungsorientierung ist sehr aufwendig. Aufwendig ist aber auch die Integration verpönter oder verachteter Selbstanteile, die bisher nach außen abgeführt und auf andere Menschen projiziert wurden, in das verletzliche Selbst. Dadurch werden intensiv Schamgefühle aktiviert, die bisher durch Verachtung und Aggression geschützt wurden.
Hilfreich ist auch ein kognitives Verständnis der eigenen verletzlichen und grandiosen Selbstanteile, wie sie durch Spiegelung von anderen beschreibbar sind und damit erst einmal der Reflexion zugänglich gemacht werden. Diese sogenannte mentalisierungsbasierte, die Selbstreflexion fördernde Therapie (Bateman und Fonagy 2008) hat sich als sehr wirksam erwiesen. Auch in Gruppentherapien, in denen der Verachtungs/Neid-Affekt in Form des Gesichtsausdrucks anderer gespiegelt wird, kann der Selbstwahrnehmung äußerst dienlich sein, da dieser Affekt nicht vom Betroffenen wahrgenommen wird.
Die Nachfrage nach Büchern zur Therapie narzisstischer Persönlichkeiten ist auch dadurch angestoßen, dass heute sehr viele Patienten, sei es durch berufliche, körperliche oder Beziehungskrisen, häufig auch von Freunden unterstützt, Therapie suchen. Sowohl stationäre Therapien als auch Rehabilitationsbehandlungen (Herzinfarkt, Schmerz, körperliche Erkrankungen) sind erst durch ein tieferes Verständnis narzisstischer Persönlichkeitsanteile nachhaltig wirksam. Der Zugang über die individuell unterschiedlichen Leitaffekte im Rahmen der Verletzlichkeitsverarbeitung macht heute eine viel zielgerichtetere Therapie möglich als früher.
Ein Patient sagte am Ende der Therapie, in die er in einer Rehabilitationsklinik nach einem Herzinfarkt zunächst durch Zufall geraten war: „Ich habe zunächst überhaupt keine Probleme gesehen, fühlte mich stark und unverletzlich. Meine Kindheit schien mir normal, mein Leistungsstreben erfolgreich, wie meine ganze berufliche Karriere. Von der Familie hatte ich wenig, da mir keine Zeit blieb. Heute sehe ich dies alles als Flucht, als Angst vor meiner eigenen Verletzlichkeit und meinen Sehnsüchten. Wie es kommen konnte, dass mir das alles nicht zugänglich war, hat mir Nietzsche vermittelt, den ich nun endlich verstehe. Hinzufügen möchte ich, dass ich mich nun auch erinnern konnte, was mir angetan wurde und wie ich dies in eigene Härte umgesetzt habe.“