Das Narrativ der wertebasieren Sicherheitsgemeinschaft

Das von Karl W. Deutsch et al. (1957) bereits in den 1950er Jahren entwickelte Konzept einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft wurde in den 1990er Jahren von Emmanuel Adler und Michael Barnett (1998) entscheidend erweitert. Adler/Barnett stellen in ihrer Interpretation vor allem auf den Gedanken einer gemeinsamen Identität ab, die sich durch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickle und letztlich den friedlichen Wandel von zwischenstaatlichen Beziehungen erklären könne (Adler/Barnett 1998: 30). In wissenschaftlichen Debatten über die transatlantischen Beziehungen taucht das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft immer wieder im Zusammenhang mit konstruktivistischen Arbeiten auf. Bei Thomas Risse-Kappen werden vor allem die gemeinsam geteilte Normen und Werte wie Demokratie und die Herausbildung einer transatlantischen Identität als ‚Kitt' hervorgehoben, der die NATO zusammengehalten habe und auch nach dem Wegfall der gemeinsamen Bedrohung vor einem Verfall bewahre. Risse kehrt hierbei das Argument der uneingeschränkten Vormachtstellung der USA zwar nicht vollkommen um, zeigt jedoch, wie auch die vermeintlich schwächeren europäischen Staaten erheblichen Einfluss auf die U.S.Außenpolitik während des Kalten Krieges ausüben konnten (Risse-Kappen 1995).

Mit Blick auf die Gegenmachtdebatte hebt Risse hervor, dass die EU zwar wirtschaftlich in der Lage wäre, eine vergleichbare nukleare Zweitschlagkapazität aufzubauen, jedoch hierzu der politische Wille gänzlich fehle (Risse 2002). Dagegen beobachtet er, dass der Unilateralismus und die ‚imperiale Versuchung', der die USA unter der Präsidentschaft von George W. Bush nicht widerstehen konnten, das Fundament der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft angegriffen hätten. Risse nennt drei I's („identities“, „interdependence“, „institutions“), auf denen die transatlantischen Beziehungen beruhen und die seiner Meinung nach immer noch intakt seien, doch existierten zwischen den USA und Europa grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über die Lösung aktueller sicherheitspolitischer Probleme (Risse 2002: 269). Da die USA auf Unilateralismus und militärische Lösungen setzten, empfiehlt Risse den Europäern die Entwicklung einer eigenen Weltordnungspolitik. Diese solle auf der Herrschaft des Rechts und liberalen Prinzipien beruhen und als eindeutiger Gegenentwurf zu den unilateralen und militärfixierten Vorstellungen der amerikanischen Neokonservativen fungieren (Risse 2003).

Angesicht der Auseinandersetzungen über den Irakkrieg wurde dieser normative Zusammenhalt der NATO jedoch grundlegend hinterfragt. Die Auffassung, wonach die USA und Europa Teil einer Sicherheitsgemeinschaft seien, wird von Michael Cox (2005) angesichts der Irakkrise des Jahres 2003 grundsätzlich bezweifelt. Seiner Meinung nach haben sich die USA und Europa in sicherheitspolitischen Fragen weit voneinander entfernt. Von einer geteilten Wertebasis könne seiner Meinung nach kaum mehr die Rede sein, weshalb auch die Vorstellung einer Sicherheitsgemeinschaft nicht mehr angebracht sei, um die transatlantischen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Für Cox waren die ‚guten' transatlantischen Beziehungen während der 1990er Jahre eher eine Selbsttäuschung, da bereits elementare Konflikte existierten, diese aber nicht öffentlich und nicht in der Schärfe ausgetragen wurden wie angesichts des Irakkrieges des Jahres 2003 (Cox 2005: 211). Kritsch äußerte sich hierzu Vincent Pouliot, der in der jüngeren Krise eher ein Zeichen für eine gut funktionierende Sicherheitsgemeinschaft sieht. Der Kern der Sicherheitsgemeinschaft bestehe seiner Meinung nach nicht darin, Konflikte per se auszuschließen, sondern deren friedliche Lösung zu ermöglichen. Zwischen den Partner dies- und jenseits des Atlantiks hätten sich während der Jahre bestimmte Routinen und Praktiken entwickelt, die auch in einer solch fundamentalen Krise nicht dazu führten, dass der Kern der Sicherheitsgemeinschaft angegriffen werde (Pouliot 2006).

 
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