Eine Typologie der „Machtbeziehungen“

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Aus den hier rekonstruierten Forschungsnarrativen lässt sich eine vorläufige Typologie von Machtbeziehungen erstellen. Der Fokus soll auf drei idealtypische Ausprägungen gelegt werden, die Machtbeziehungen annehmen können und in der Literatur immer wieder auftauchen.

Gleichgewicht

Aus den Argumentationen defensiver Neorealisten geht ein Konzept von Machtverhältnissen hervor, das dem Gleichgewicht (balance of power) einen äußerst prominenten Stellenwert einräumt. Die balance of power kann aus Sicht dieser Theorie als der machtpolitische Grundzustand unter den Bedingungen der Anarchie bezeichnet werden, zu der jedes Machtverhältnis immer wieder zurückkehren wird – notfalls auch durch militärische Gewalt. Inwiefern sich im transatlantischen Machtverhältnis nach dem Ende des Kalten Krieges Tendenzen zeigen, die auf die Herstellung eines Gleichgewichts hindeuteten, ist unter Neorealisten (und darüber hinaus) hoch umstritten. Dies zeigt bereits ein oberflächlicher Blick auf die Forschungsdebatte. Da eine balance of power nach neorealistischer Auffassung vor allem in der Herstellung eines Gleichgewichts militärischer Ressourcen besteht, was in der Regel nicht mit friedlichen Mitteln erreicht werden kann, glaubten einige Vertreter eine neue Form der Gleichgewichtspolitik zu erkennen, die als soft balancing bezeichnet wird.

Ein Blick auf die stärker politisch-feuilletonistische Debatte wirft sogar die Frage auf, ob die transatlantischen Beziehungen zeitweise überhaupt noch als Machtverhältnis bezeichnet werden können oder ob die oppositionelle Haltung einiger europäischer Regierungen während des Irakkrieges nicht schon Formen des Widerstands und einer Auflösung der Machtbeziehungen verkörpern. Kürzt man aus diesen Aussagen jedoch die journalistischen Zuspitzungen heraus und blickt auf die sozialen Praktiken der Akteure, könnte sich der Eindruck möglicherweise etwas relativieren – schließlich wurden trotz verbaler Attacken der U.S.-Regierung und ‚markiger' Wahlkampfslogans der damaligen Bundesregierung die deutschen Bündnisverpflichtungen erfüllt.

Hegemonie

Wohl die meisten Autoren, die sich mit den transatlantischen Beziehungen befassen, gehen davon aus, dass die materielle Überlegenheit der USA Grundlage einer „hegemonialen“ Machtposition ist. Durch den Prozess der europäischen Integration wurde dieses Ungleichgewicht jedoch vor allem in ökonomischer Hinsicht verringert. Die aktuellen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU lassen auch nicht unbedingt darauf schließen, dass hier ein Hegemon mit einem nachrangigen „Zweitstaat“ verhandelt. In militärischen Belangen drückt sich die Überlegenheit der USA hingegen weitaus deutlicher aus. Die jüngsten sicherheitspolitischen Herausforderungen zeigen immer noch eine klare Abhängigkeit Europas von der Militärmacht der USA – ob in der Ukraine oder im Kampf gegen den „Islamischen Staat“.

Ikenberrys Konzept der liberalen Hegemonie hingegen und die Annahme einer constitutional order, die nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet und nach dem Ende des Kalten Krieges erneuert wurde, geht über die Annahme einer materielle begründeten Hegemonie hinaus. Demnach basiert die „liberale Hegemonie“ der USA auf dem Prinzip der strategischen Zurückhaltung, die sich in einer verfassungsähnlichen Struktur manifestiert und, so Ikenberry, durch drei wesentliche Aspekte auszeichnet: Verbindlichkeit/Transparenz („bonding“), (Selbst-) Bindung („binding“) und Mitsprachemöglichkeiten („voice opportunities“). „Bonding“ bezeichnet hierbei eine Verbindlichkeit des Hegemons, die durch Transparenz des politischen Systems entsteht. „Binding“ stellt auf eine institutionelle Selbstbindung des Hegemons ab, der sich etwa im Rahmen von internationalen Organisationen wie der NATO oder den Vereinten Nationen allgemeinen Regeln unterwirft und somit seine Machtausübung selbst beschränkt. Unter „voice opportunities“ sind institutionalisierte Mitsprachemöglichkeiten der Gefolgsstaaten zu verstehen. Der Hegemon trifft seine Entscheidungen in Absprache mit den Gefolgsstaaten, räumt diesen Gelegenheiten ein, ihre eigenen Interessen und Perspektiven zu artikulieren, wodurch diese zu langfristigen Verbündeten werden. Der Hegemon verpflichtet sich gegenüber den Gefolgsstaaten zur strategischen Zurückhaltung im Sinne der drei genannten Kriterien – diese verzichten dafür auf eine Gegenmachtpolitik.

Auch das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft verweist auf immaterielle Faktoren, wie gemeinsame Werte und die Herausbildung einer kollektiven Identität, um die Stabilität des transatlantischen Verhältnisses zu erklären. Grundsätzlich wird jedoch auch hier davon ausgegangen, dass die USA eine hegemoniale Machtposition gegenüber den europäischen Partnern einnehmen.

Sicherlich teilen nicht alle Autoren, die von einem hegemonialen Machtverhältnis in den transatlantischen Beziehungen ausgehen, die Vorstellung einer liberalen Hegemonie. Für Autoren etwa, die auf Grundlage der Theorie hegemonialer Stabilität argumentieren, wäre die NATO weniger eine Institution der Selbstbindung, sondern eher ein Instrument der hegemonialen Machtausübung, um das System zu stabilisieren und Kontrolle über die Zweitstaaten auszuüben. Hier liegt folglich ein Hegemoniebegriff zugrunde, in dem Führung und Gefolgschaft weniger durch freiwillige Anerkennung und den Verzicht auf Zwangsmaßnahmen praktiziert werden, sondern eher durch Kontrolle und Unterordnung, wodurch die Frage aufgeworfen wird, inwiefern Hegemonie noch von Herrschaft zu unterscheiden wäre.

 
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