Die Analyse von Akteursbeziehungen und das level of analysis-Problem in den IB
Der Streit über die unterschiedlichen Analyseebenen in den IB ist so alt wie die Disziplin selbst und wurde insbesondere im Rahmen der sogenannten zweiten Debatte offensiv und kontrovers diskutiert (siehe hierzu Singer 1961). Die zweite Debatte findet in der disziplinhistorischen Forschung in verschiedenen Dichotomien Verwendung. ‚Traditionalismus vs. Szientismus' oder ‚Realismus vs. Behaviorismus' sind hierbei zwei der häufigsten Einteilungen. Weniger problematisch erscheint die Frage nach dem Kern der Auseinandersetzung. Milja Kurki und Colin Wight (2009) beschreiben die zweite Debatte als eine Auseinandersetzung, die primär methodologische Fragen zum Gegenstand hatte.
Einander gegenüber standen auf der einen Seite Anhänger der damaligen behavioristischen Revolution in den Sozialwissenschaften wie David Singer und Morton Kaplan, die für eine methodische Fundierung der IB nach naturwissenschaftlichen Forschungsidealen einstanden. Unter dem Motto 'If you cannot measure it, your knowledge is meager and unsatisfactory' wurden die gesammelten Daten unter Anleitung hauptsächlich quantitativer Methoden nach bestimmen Mustern durchsucht und die Ergebnisse schließlich in den Stand allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erhoben bis deren Falsifikation erbracht wurde.
Auf der anderen Seite standen die sogenannten Traditionalisten wie Hans Morgenthau oder Hedley Bull, die zwar ebenfalls für eine systemische Analyse internationaler Beziehungen plädierten, der Leidenschaft ihrer Kollegen für die Sammlung und Auswertung von Daten und vor allem den hieraus abgeleiteten Wahrheitsansprüchen jedoch skeptisch gegenüberstanden. Obwohl die Euphorie für behavioristische Forschung in den letzten Jahrzehnten deutlich nachgelassen hat, weisen Kurki und Wight darauf hin, dass die damals propagierten methodologischen Ideen positivistischer Forschung auch heute noch tief in den IB verankert sind (Kurki/Wight 2009).
Im Kontext der zweiten Debatte wurde auch der Streit über die Analyseebene geführt, der sich vor allem an der Frage entzündete, wie das Verhalten von Staaten idealerweise erklärt werden könne. Singer skizziert zwei widerstreitende Positionen, nämlich die Analyse der einzelnen Komponenten, also Staaten, oder die Analyse des internationalen Systems (Singer 1961: 77). Die wohl prägendste Unterscheidung von Analyseebenen in den IB stammt von Kenneth Waltz, die er in seinem Werk Man, the State and War, erstmals 1954 erschienen, vornahm.
Internationale Konflikte, so Waltz können dabei auf drei Ebenen analysiert werden: (1) Individuum, (2) Staaten, (3) Internationales System. Auf der ersten Ebene, so Waltz, spielen vor allem menschliche Eigenschaften und Leidenschaften eine wesentliche Rolle, um internationale Konflikte zu erklären. Die grundlegende Frage sei hierbei einerseits, ob und wie ‚das Böse' im Menschen und seine Natur überwunden werden könne, um internationale Konflikte zu verhindern, denn wie Niebuhr schreibt: „men are not god enough to do what should be done for the commonwealth on a purely voluntary basis“ (Niebuhr 1949: 219, zitiert nach Waltz [1954] 2001: 26). Auf der anderen Seite gehe es um die Frage, inwiefern die menschliche Natur überhaupt für internationale Konflikte verantwortlich sein könne. Denn, so schreibt Waltz:
„Human nature may in some sense have been the cause of war 1914, but by the same token it was cause of peace in 1910. In the intervening years many things changed, but human nature did not” (Waltz [1954] 2001: 28)
Wie kann also die menschliche Natur als eine Ursache für zwei grundverschiedene Zustände gelten, obwohl sie sich in der Zwischenzeit nicht änderte? Dies erscheint für Waltz ein nicht logisch lösbares Dilemma. Waltz geht es nicht darum, die Bedeutung menschlichen Verhaltens grundsätzlich zu negieren, da auch Kriege letztlich von Menschen geführt und ohne sie schlechterdings nicht möglich wären. Die Frage ist jedoch, ob es für den Ausbruch von Kriegen nicht auch andere Möglichkeiten der Erklärung gibt.
So stellt sich die Frage, welche Bedeutung die inneren Strukturen eines Staates zur Erklärung von Kriegen haben – ein Aspekt, der insbesondere von liberalen Denkern im 18. und 19. Jahrhundert diskutiert wurde. In Anlehnung an Kant wurde hieraus die Überlegung abgeleitet, dass Staaten, die in ihrem inneren friedlich verfasst wären, dies auch auf ihre Außenbeziehungen übertragen würden (Waltz [1954] 2001: 103). Krieg und Frieden wären demnach das Ergebnis
‚guter' und ‚schlechter' Staaten. Waltz betont jedoch, dass es selbst in einer Welt, in der nur ‚gute' Staaten existieren würden, Konflikte entstehen. Diese könnten jedoch in friedlicher Weise gelöst werden, etwa durch Institutionen, Regelungen und Interessenausgleich. Was die liberalen Ansätze dabei jedoch übersehen, so Waltz, sei die eigentliche Ursache des Krieges: die internationale Anarchie (Waltz [1954] 2001: 115). Die Tatsache einer fehlenden, den Staaten übergeordneten (Herrschafts-) Instanz führe nämlich dazu, dass Staaten nie über das Verhalten anderer sicher sein könnten. Neorealistische Ansätze stellen demnach vor allem auf die asymmetrische Verteilung materieller und vorwiegend militärischer Ressourcen zwischen den Staaten ab, um die Machtposition eines Staates zu begründen. Ihr Blick richtet sich in Anlehnung an Waltz' Unterscheidung auf die dritte Analyseebene („third image“) des internationalen Systems. Dies impliziert, dass Staaten als einheitliche Akteure („like units“) betrachtet werden, die sich lediglich aufgrund einer spezifischen Verteilung materieller Fähigkeiten unterscheiden (Waltz 1979).
Nun wurde in dieser Arbeit in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Machttheoretikern ein relationaler Machtbegriff herausgearbeitet, der die handelnden Akteure wieder stärker in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Demnach werden Staaten nicht als Akteure verstanden, sondern als Strukturen, die Akteurshandeln ermöglichen, indem sie einen Bedeutungsrahmen bereitstellen, an den die Handlungen von Entscheidungsträger sinnhaft anschlussfähig erscheinen (Franke/Roos, 2010b). Um die Machtverhältnisse zwischen Staaten zu analysieren, müssen folglich die Beziehungen individueller Akteure betrachtet werden, die als Repräsentanten dieser Staaten handeln. Staaten selbst können nicht handeln, sondern ermöglichen Akteuren sinnhaft in ihrem Namen zu handeln.17 Wenn also im Text von ‚den USA' oder ‚der Bundesrepublik' die Rede ist, dann ist jeweils das Kollektiv der politischen Repräsentanten als Regierung gemeint, nicht das Kollektiv der Gesellschaften als Nation und auch nicht der Staat als Akteur.
Somit stellt sich umso dringlicher die Frage nach den Akteuren, die in der Untersuchung betrachtet werden sollen. Obwohl an politischen Entscheidungen oftmals zahlreiche Personen beteiligt sind, sollen in dieser Analyse die Beziehungen der politischen Entscheidungsträger (Regierungschefs und Minister) im Vordergrund stehen, um den zu betrachtenden Personenkreis einzugrenzen. An gebotener Stelle können auch enge Berater und hohe Ministerialbeamte berücksichtigt werden, in der Regel bleibt die Arbeitsebene jedoch ausgeblendet. Auch gesellschaftliche Akteure bleiben in dieser Analyse unberücksichtigt. Da das Handeln der politischen Entscheidungsträger medial verfolgt und beobachtet wird, soll die Medienberichterstattung über die einzelnen Situationen als empirisches Material herangezogen werden, die Medien und deren Vertreter werden jedoch nicht selbst als handelnde Akteure im Sinne der Analyse betrachtet. Obwohl der Einfluss von Kolumnisten, Verlegern und anderen Medienakteuren auf politische Entscheidungen und die Beziehungen zwischen Staaten enorm sein kann, muss auch hier aus forschungspragmatischen Gründen eine Grenze gezogen werden. Gleiches gilt für politiknahe und wissenschaftliche Experten, auf deren Arbeiten zwar an der einen oder anderen Stelle verwiesen wird, um bestimmte Hintergründe zu beleuchten.
Die Auswahl der Analyseebene und die Fokussierung auf politische Entscheidungsträger könnten den Verdacht nähren, dass in dieser Arbeit nun ein weiterer Versuch unternommen werden soll, einen sogenannten first imageAnsatz in den IB zu etablieren. Grundsätzlich sympathisiert diese Arbeit mit Analysen, die individuelles Handeln, Praktiken und Akteursbeziehungen in den Vordergrund rücken. Allerdings unterscheidet sich eine relationale Analyse in ihrem Erkenntnisinteresse doch erheblich von klassischen, behavioristisch fundierten first image-Analysen.
In der Zeitschrift International Security wurde zu Beginn der 2000er Jahre über die Rückkehr von first image-Ansätzen in den IB diskutiert. Angestoßen wurde diese Debatte von Daniel Byman und Kenneth Pollack, die in ihrem Aufsatz Let Us Now Praise Great Men: Bringing the Statesmen Back In die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten für große historische Prozesse hervorheben. Ihre Kritik richtet sich an eine Tendenz in der politikwissenschaftlichen Erforschung internationaler Beziehungen, vor allem sogenannte „impersonal forces“ als Variablen heranzuziehen, um das Weltgeschehen zu erklären (Byman/Pollack 2001: 109). In der Theorie von Waltz spielen weder die Präferenzen individueller noch gesellschaftlicher Akteure eine wesentliche Rolle, da die Außenpolitik von Staaten primär den Anreizen und Zwängen der anarchischen Strukturbedingungen des internationalen Systems folgt:
“Although Waltz is unusual in even considering the first image, he nonetheless rejects it. Waltz, and those following in his tradition, believe that the third image best explains international relations-or the most important elements of it, such as the causes of great power wars and alliances” (Byman/Pollack 2001: 111)
Durch diese Fokussierung auf die systemische Ebene gehe jedoch verloren, dass auch Individuen durch ihr Handeln erheblichen Einfluss auf die politischen Geschehnisse nehmen und einen Unterschied ausmachen können. Folglich plädieren Byman/Pollack dafür, die Staatenlenker in der politikwissenschaftlichen Analyse nicht weiter auszublenden, sondern zu fragen, welchen Einfluss Individuen auf außenpolitisches Verhalten von Staaten nehmen und unter welchen Bedingungen dieser Einfluss wirksam wird (Byman/Pollack 2001: 110).
Das Hauptproblem dieses Ansatzes besteht jedoch darin, dass vorwiegend nach persönlichen Absichten und Intentionen gefahndet wird, die hinter den Handlungen stehen. Byman/Pollack streben danach, die Erklärungen für das Handeln in den individuellen Persönlichkeitsstrukturen der Machthaber zu suchen und folgen dabei einem kausalanalytischen Forschungsansatz. Die Intentionen der Akteure werden somit als unabhängigen Variable eingeführt, obwohl oftmals überhaupt nicht klar ist, wie die Intentionen eines Akteurs festgestellt und ‚gemessen' werden sollen – was jedoch strenggenommen aus der Idiosynkrasie des zugrundeliegenden positivistischen Forschungsverständnisses heraus geleistet werden müsste. Andrew Parasiliti greift in seiner Replik auf Byman/Pollack insbesondere diesen psychologisierenden Aspekt auf. So behaupten Byman/Pollack etwa, dass der „Kurs eines despotischen Regimes zu einem erheblichen Maße aufgrund der Persönlichkeit eines Führers vorhergesagt werden könne“, was Parasilitis Meinung nach als eine durchaus zweifelhafte Schlussfolgerung erscheint (zitiert nach Parasiliti 2001: 167; Übersetzung AH).
Auch mit rational choice-Ansätzen, die politische Entscheidungen unter Rückgriff auf den methodologischen Individualismus und der Annahme streng rational handelnder Akteure zu erklären versuchen, hat der hier gewählte Ansatz wenig zu tun. Wie bereits erwähnt, soll in dieser Analyse nicht der Frage nachgegangen werden, warum das Machtverhältnis der transatlantischen Beziehungen bestimmte Strukturen aufweist und warum die Akteure so handeln, wie sie handeln. Die vermeintlich ‚wahren' Intentionen und Absichten, die hinter einer bestimmten Entscheidung oder einer Handlung gesteckt haben mögen, können weder durch die Annahme einer rationalistischen Handlungstheorie, wonach Akteure unter objektiv feststellbaren, strukturellen Voraussetzungen nutzenmaximierend agieren, noch durch eine qualitative Auswertung der Memoirenliteratur oder Interviews ergründet werden. Denn selbst wenn Politiker wie Kohl oder Bush nachträglich behaupten, sie hätten bestimmte Schritte mit dieser oder jener Absicht getan, bleibt ungewiss, ob diese Einschätzung tatsächlich zutrifft oder es sich um den Versuch einer ex post Rationalisierung handelt. Wenn Entscheidungsträger in ihren Memoiren allerdings Rechtfertigungen für das eigene Handeln anbieten, besteht kein Grund, sie zu ignorieren.