Die Auswahl der Situationen

Grundsätzlich ist anzunehmen, dass sich die Aushandlung von Machtverhältnissen zwischen den Akteuren als ein ständig fortschreitender Prozess vollzieht, der jederzeit beobachtet und analysiert werden könnte. Allerdings bieten gerade krisenhafte Momente und Phasen des politischen Umbruchs Akteuren die Möglichkeit, Machtverhältnisse neu auszuhandeln, da bewährte Handlungsroutinen und -skripte in Frage gestellt werden. Sozialtheoretisch gewendet bedeutet dies, dass Akteure in ein komplexes Netz sozialer Strukturen eingebunden sind, die ihr Handeln in vielen Situation entscheidend prägen, Akteure durch ihr Handeln die Strukturen jedoch gleichzeitig reproduzieren (zur agency structure-Debatte in den IB, siehe Wendt 1987, 1992). Die Handlungsskripte, die aus der wechselseitigen Akteur-Struktur-Konstitution hervorgehen, ermöglichen beispielsweise Routineprozesse im Arbeitsalltag und ermöglichen Akteuren einen sicheren Umgang mit bestimmten Situationen, ohne jeden Schritt neu überdenken zu müssen. Die Wirkungsmacht dieser Handlungsskripte ist sowohl anhand des routinemäßigen Ablaufs von Seminaren im Universitätsalltag als auch in Teambesprechungen in einem Unternehmen zu beobachten. Allerdings unterliegen diese Handlungsskripte einer kontinuierlichen Veränderung, was alleine schon dadurch bedingt ist, dass neue Akteure auftreten und die herkömmlichen Handlungsskripte in ihrer Weise interpretieren und verändern können – wenn die Möglichkeit der Veränderung selbst wiederum Bestandteil des Handlungsskripts ist, also Veränderung nicht durch das Handlungsskript ausgeschlossen werden soll. Die Veränderung von Handlungsskripten in Routinesituationen kann sich mitunter über viele Jahre und Generationen vollziehen[1].

Allerdings lassen sich auch Situationen beobachten, in denen die gängigen und bewährten Handlungsskripte plötzlich nicht mehr funktionieren oder nun als unangemessen erscheinen. Folglich tritt eine Situation der sozialen Krise ein, das heißt, Akteure handeln entweder nach unterschiedlichen Skripten, da sie eine Situation auf verschiedene Weise interpretieren oder sie verfügen über keine vorgegebenen Handlungsskripte, die den sicheren Umgang mit einer bestimmten Situation ermöglichen. Diese Handlungskrisen kennt jeder Studierende im ersten Semester, der nach einem Vortrag Beifall klatschend feststellt, dass alle anderen klopfen oder der Reisende, der in einer fremden Kultur mit Ritualen, örtlichen Begebenheiten und Gepflogenheiten konfrontiert wurde, die weder im Reiseführer noch im Vorbereitungskurs Erwähnung fanden. In der internationalen Politik verhält es sich kaum anders, denn auch hier werden die Beziehungen durch bestimmte Handlungsskripte geregelt, die durch das diplomatische Protokoll sogar formalisiert und kodifiziert sind. Die Frage jedoch, wie Akteure Machtverhältnisse auf sozialer Ebene herstellen und welche sozialen Praktiken gebraucht werden, wird durch das offizielle Protokoll nicht geregelt[2]. Welcher Staatsgast unter welchen Bedingungen mit militärischen Ehren empfangen wird, lässt zwar eine Aussage über dessen protokollarischen Rang zu, jedoch nicht darüber, wie Machtverhältnisse in der sozialen Praxis hergestellt werden[3].

Hinsichtlich der transatlantischen Beziehungen ist grundsätzlich anzunehmen, dass die Handlungsskripte, nach denen die Akteure ihre Machtbeziehungen unter den Bedingungen des Kalten Krieges herstellten, als relativ stabil anzusehen sind. Einleitend zum empirischen Teil dieser Arbeit wird näher auf das transatlantische Machtverhältnis während des Kalten Krieges eingegangen. So wird gezeigt, wie der Kalte Krieg die Machtstruktur des atlantischen Bündnisses über Jahrzehnte prägte. Die Bedeutungsmuster, die dem Kalten Krieg eingeschrieben sind und die Machtordnung innerhalb des Bündnisses rechtfertigten, verloren jedoch in den Jahren 1989/90 ihre Gültigkeit, denn insbesondere die Vorstellung einer ‚permanenten und existentiellen Bedrohung durch die Sowjetunion' war in westlichen Gesellschaften kaum noch vorhanden (Asmus 1989: v). Durch den Bedeutungsverlust des Kalten Krieges als Begründung der USamerikanischen Führungsrolle, verloren auch die herkömmlichen Handlungsskripte ihre Bedeutung, die das Machtverhältnis zwischen den Akteuren auch in Phasen politischer Krisen stabilisierten, wie beispielsweise im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss deutlich wird. Während Präsident Carter kein Interesse an einer Nachrüstungsdebatte hatte, zwang Helmut Schmidt mit dem Verweis auf die Unteilbarkeit der transatlantischen Sicherheit und die Beschwörung eines nuklearen Ungleichgewichts den Verbündeten diese Diskussion auf. Das Bedrohungsnarrativ des Kalten Krieges funktionierte.

Wenn hier also von einer „krisenhaften“ Situation die Rede ist, dann muss es sich nicht notwendigerweise auch um eine politische Krise handeln. Eine Situation wird demnach als Krise bezeichnet, wenn keine herkömmlichen Handlungsskripte (mehr) zur Verfügung stehen. Dass dies in der Regel auch zu einer politischen Krise führt, zeigte die Geschichte der transatlantischen Beziehungen von der Suezkrise über den NATO-Doppelbeschluss bis hin zum Streit über die nuklearen Kurzstreckenraketen. Der Blick richtet sich im ersten empirischen Teil demnach auf eine Krise, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, die aber für die Konstitution des transatlantischen Machtverhältnisses in der Endphase des Kalten Krieges von hoher Bedeutung war: der Streit über die Modernisierung der sogenannten LANCE-Raketen. Der Streit über die LANCE-Raketen im Frühjahr 1989 stellte den traditionsbestimmten Status der USA als Führungsmacht innerhalb des Bündnisses auf eine ernsthafte Probe, denn die strukturellen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges, die spezifische Handlungsskripte hervorbrachten, lösten sich zunehmend auf. In der westlichen Allianz zeichneten sich bereits auf dem NATO-Gipfel des Jahres 1987 in Reykjavik Differenzen über die Frage ab, ob die veralteten LANCE-Raketen durch ein Nachfolgemodell ersetzt werden sollten. Durch eine Kompromissformel konnte die Auseinandersetzung vertagt werden, doch spätestens seit im sogenannten Galvin-Bericht festgestellt wurde, dass eine Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen (SNF) unerlässlich sei, um die Verteidigungsfähigkeit der NATO aufrecht zu erhalten, kletterte die Angelegenheit auf der Agenda des Bündnisses immer weiter nach oben. Der Streit über die LANCE-Raketen verdichtete sich schließlich in den Wochen vor dem NATO-Gipfel 1989 in Brüssel.

Bis in den April 1989 wurden die Differenzen zwischen den NATOVerbündeten offen verhandelt, wobei sich einerseits eine Unvereinbarkeit der verschiedenen Positionen abzeichnete und andererseits durch den bevorstehenden NATO-Gipfel der Druck stieg, die Einheit des westlichen Bündnisses zu demonstrieren. Auf einem NATO-Ministertreffen am 19. April 1989 einigten sich die Partner auf eine Kompromissformel, die nur einen Tag später durch einen überraschenden Vorstoß der deutschen Bundesregierung annulliert wurde

– zur großen Verärgerung der Regierungen in Washington und London. In der Folge kam es zu zahlreichen Interaktionen zwischen der deutschen, U.S.amerikanischen und britischen Regierung, die genauer betrachtet und hinsichtlich der Frage analysiert werden, wie in dieser kritischen Situation das transatlantische Machtverhältnis ausgehandelt und hergestellt wurde. Die Analyse dieser ersten Situation soll zeigen, wie unmittelbar auf den Vorstoß der Bundesregierung innerhalb des Bündnisses reagiert wurde. Die folgende kritische Situation, die im Kontext der Auseinandersetzung über die SNF betrachtet wird, fand nur wenige Tage später statt. Hierbei handelt es sich um das deutsch-britische Gipfeltreffen im pfälzischen Deidesheim am 30. April 1989. Durch Analyse dieser Situation soll gezeigt werden, wie das transatlantische Machtverhältnis hier hergestellt wurde, obwohl kein Vertreter der US-Regierung körperlich anwesend war. Schließlich wird der Verhandlungsprozess auf dem NATO-Gipfel in Brüssel in den Blick genommen. Insbesondere die U.S.-Regierung bemühte sich im Vorfeld des Gipfels darum, einen Kompromissvorschlag zu entwickeln, der für alle Seiten akzeptabel war. Doch die Verhandlungen auf dem NATOGipfel gestalteten sich deutlich komplizierter als geplant und mussten von der Arbeitsauf die Ministerebene gehoben werden, um einen Kompromiss zu erzielen. Das Gipfeltreffen und die nächtliche Verhandlungsrunde zwischen den Ministern stellen somit den Showdown dieses Konflikts dar.

Der Streit über die LANCE-Raketen ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, dabei markiert diese Auseinandersetzung wie kaum eine andere den Übergang von der Zeit des Kalten Krieges in eine ‚neue Weltordnung'. Im Anschluss daran wird eine zweite krisenhafte Phase untersucht, die sich im selben Jahr zugetragen hatte. Durch den Fall der Berliner Mauer wurde die Debatte über die deutsche Wiedervereinigung an die Spitze der transatlantischen Agenda katapultiert und wieder war es die deutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl, die durch einen Vorstoß die transatlantischen Beziehungen durcheinander wirbelte. Die Veröffentlichung des 10 Punkte Programms, eines Fahrplans zur Wiedervereinigung, und die daran anschließenden Interaktionen sollen analysiert werden, um weitere Erkenntnisse über die Herausbildung des transatlantischen Machtverhältnisses im Krisenjahr 1989 zu erlangen.

  • [1] Zu solch einer pragmatistischen Lesart des agency structure-Problems, siehe Herborth (2004), Franke/Roos (2010b); zu Handlungsskripten im diplomatischen Feld, siehe Neumann (2002)
  • [2] Für eine genaue Beschreibung protokollarischer Fragen siehe das diplomatische Standardwerk „Satow's Diplomatic Practice“
  • [3] George Bush geht in seinen Memoiren näher auf das Verhältnis zwischen Protokoll und Machtstatus ein. So habe das G7-Protokoll aufgrund unklarer Statuszuweisungen die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich immer wieder belastet. Hinsichtlich seines Verhältnisses zum französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand schreibt Bush: „I did not care about all that, and if I could defer to Mitterrand on some matter of protocol, I was happy to. In my mind it did not diminish the United States to do so. He was older, he had been in office longer than I, so why not be respectful? My view is, if you have differences, be firm about them, but do not get caught up on standing or protocol rank” (Bush/Scowcroft 1998: 76)
 
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