Der Bedeutungsverlust des Kalten Krieges als „Metanarrativ“ der transatlantischen Beziehungen

Der Kalte Krieg und seine identitätsstiftenden Bedeutungsstrukturen ermöglichten zwar ein von den USA dominiertes Machtgefüge, das sich auch durch die Stationierung militärischer Einheiten und Raketen der Westalliierten auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland materiell verfestigte[1]. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Machtposition der USA zu einem nicht unerheblichen Teil durch die westeuropäischen Verbündeten gefordert wurde. Laut Lord Ismay wurde die NATO schließlich gegründet „to keep the Americans in, the Russians out, and the Germans down“. James Baker schreibt hierzu:

“In foreign policy, President Reagan had resolutely managed the Euro-missile crisis in the first years of his presidency. He had shown that the key to alliance unity was consistent American leadership. During the Cold War, that was the persistent paradox in transatlantic relations: While Europeans publicly complained about the imposing nature of American leadership, in private the political elite was consistently far more worried about a leadership vacuum caused by American disengagement or vacillation” (Baker 1995: 92)

Mit den großen Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss und der Friedensbewegung wurde die Machtordnung des Kalten Krieges jedoch erstmals auch in der westdeutschen Bevölkerung hinterfragt. Meinungsumfragen aus den späten 1980er Jahren zeigen zwar, dass insbesondere die politische Rolle der NATO keineswegs so kritisch gesehen wurde, wie die Friedensforschung oftmals behauptete (Klein 1990: 319). Allerdings verlor eine wesentliche Signifikation des Kalten Krieges, wonach von der Sowjetunion eine existentielle Bedrohung ausgehe, vor allem in der westeuropäischen Öffentlichkeit immer stärker an Glaubwürdigkeit. Infolgedessen gerieten auch die militärstrategischen Planungen der NATO und USA unter zunehmenden Rechtfertigungsdruck. Denn die U.S.amerikanische Vormachtstellung in Europa und besonders in Westdeutschland schlug sich primär in der Dislozierung nuklearer Waffensysteme nieder, die der Befehlsgewalt der deutschen Bundesregierung de facto entzogen waren. Die Führungsrolle der USA – in Verbindung mit dem Besatzungsstatut – führte zu einer empfindlichen Beeinträchtigung der territorialen Integrität und Souveränität Westdeutschlands (Bartsch/Hellmann 1994).

Dennoch zeichnete sich seit den Debatten über den NATO-Doppelbeschluss eine schwindende Akzeptanz in der Bevölkerung hinsichtlich der Stationierung nuklearer Waffen auf dem Territorium der Bundespublik ab. Die Meinungsforscher führen diese Einstellungsveränderung, die sich insbesondere in Westdeutschland zeigte, vor allem auf die zunehmende Popularität Michail Gorbatschows zurück. Eine ABC-Umfrage vom Mai 1989 kommt zu dem Ergebnis, wonach 9 von 10 Westdeutschen eine positive Einstellung zu Gorbatschow hätten (Washington Post, 30. Mai 1989). Mary Kaldor verweist bereits im März 1988 auf Meinungsumfragen, die ebenfalls zeigen, dass sich die westeuropäische Bevölkerung nicht mehr von der Sowjetunion bedroht fühle (Kaldor 1988: 28). Alvin Richman, der die Ergebnisse zahlreicher Meinungsforschungsinstitute auswertete und gegenüberstellte, argumentiert, dass sich dieser Trend auch in den USA beobachten lasse. Während Mitte des Jahres 1988 noch über 60% der Bevölkerung der Meinung gewesen seien, die Sowjetunion stellten entweder eine

‚ernsthafte' oder ‚sehr ernsthafte Gefahr' für die USA dar, sei diese Zahl bereits

im Frühjahr 1990 auf knapp die Hälfte gesunken (Richman 1991: 135).

Abbildung 1: US-Einstellungen zur UdSSR (Quelle: Richman 1991: 137)

Auch in der politischen Elite scheint sich gegen Ende der 1980er Jahre zumindest ansatzweise die Vorstellung zu verbreiten, dass der ‚Kalten Krieg' zu Ende gehen könnte. So erklärte die britische Premierministerin Margret Thatcher im November 1988 in einem Interview mit den Herausgebern der Washington Post und der Newsweek: ‚We are not in a cold war, now' (New York Times, 18. November 1988). Während US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion zu Beginn der 1980er Jahre noch als ‚evil empire' bezeichnete und Gorbatschow 1987 dazu aufrief, die Berliner Mauer niederzureißen[2], erklärte Margret Thatcher nun, dass man sich derzeit nicht in einem ‚Kalten Krieg' befände. Thatchers Worte wurden rasch in den Medien verbreitet und führten zu einer kuriosen Situationen auf einer Pressekonferenz mit einer sowjetischen Delegation, die von dieser Haltung offenbar überrascht waren und selbst nicht genau wussten, wie sie hierauf nun reagieren sollten:

“Christopher Jones, Fox Television News: Mr. Shishlin (Debuty Head of the Department, Central Committee of CPSU), do you agree with your colleague, Mr. Gerasimov (head of the Department of Information of the Foreign Ministry), that the cold war is over?

Mr. Gerasimov: The question wasn't quite clearly put. I didn't say that the cold war was over; I said that Mrs. Thatcher said that the cold war was over. I was agreeing with Mrs. Thatcher; I wasn't expressing my own opinion.

Mr. Shishlin: Maybe I can take leave not to agree with either Thatcher or Gerasimov. I would

say the cold war is over, or is on the way out.” (Federal News Service, 5. Dezember 1988)

Der Sprecher des Sowjetischen Außenministeriums Gerasimov verkündete im Juni 1989 das endgültige Ende der Breschnew-Doktrin, die durch die sogenannte

‚Sinatra Doktrin' ersetzt werden solle, worüber in der New York Times zunächst beiläufig unter dem Titel Glasnost Innovation: Jokes berichtet wurde (New York Times, 13. Juni 1989)[3]. Seitdem wird Gerasimov mit den Worten zitiert: ‚We now have the Frank Sinatra doctrine. He has a song – I had it my way. So every country decides on its own which road to take'.

Die Bedrohungswahrnehmung, die sich über viele Jahrzehnte nicht nur in den sicherheitspolitischen Elitendiskurs festgesetzt hatte, sondern auch tief in der Gesellschaft verankert war, scheint sich in den späten 1980er Jahren signifikant zu verringern. Dieser Stimmungsumschwung blieb nicht ohne politische Folgen

– insbesondere für die Machtordnung des atlantischen Bündnisses. Margaret Thatcher greift diese Entwicklung in ihren Memoiren auf und spricht von einer regelrechten ‚Gorbymania', die insbesondere Deutschland erreicht habe und ihrer Meinung nach erhebliche Auswirkungen auf die Bündnispolitik der deutschen Bundesregierung hatte (Thatcher 1993b: 747). Baker berichtet, wie ihm nach seiner ersten Europareise als US-amerikanischer Außenminister im Februar 1989 bewusst geworden sei, dass die USA ihre Führungsrolle innerhalb des Bündnisses nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen konnten. Daher sei es dringend geboten, diese Rolle auf dem NATO-Gipfel 1989 entsprechend zu sichern (Baker 1993: 90).

Diese kurze Problematisierung des ‚Kalten Krieges' und die Darstellung identitätsstiftender Bedeutungsstrukturen soll den Blick für jene diskursiven Prozesse sensibilisieren, die zur Begründung einer Führungsrolle der USA innerhalb des Bündnisses beigetragen haben. Auffallend ist, dass diese Führungsrolle von Seiten der U.S.-Regierungen zwar angenommen, aber stets mit einer gewissen Zurückhaltung ausgeübt wurde. Trotz aller Krisen und Konflikte innerhalb des Bündnisses scheint das Machtverhältnis und die Führungsrolle der USA nicht grundlegend hinterfragt worden zu sein. Die wiederkehrenden Streitereien – beispielsweise Suez-Krise, NATO-Doppelbeschluss, Modernisierung der LANCE-Raketen – fokussierten sich vielmehr auf die Frage, wie die USA ihre Führungsrolle ausgestalten sollten. Die relativ stabile Akzeptanz der USA als Führungsnation des Bündnisses lässt sich dabei auf die identitätsstiftenden Bedeutungsstrukturen des ‚Kalten Krieges' zurückführen, da hierdurch der diskursive Rahmen geschaffen wurde, der den handelnden Akteuren die Herstellung und Aktualisierung dieses Machtverhältnisses ermöglichte, die gleichsam diese Bedeutungsstrukturen reproduzierten – oftmals aber auch modifizierten.

Durch Entwicklungen in den 1980er Jahren, insbesondere durch das Auftreten eines neuen Akteurs in der Person Michael Gorbatschows, gerieten diese Handlungsroutinen zunehmend in eine Krise. Denn durch die Amtsübernahme Gorbatschows und seiner Politik des sogenannten ‚Neuen Denkens', aus der Glasnost und Perestroika hervorgingen, ergab schließlich auch die diskursive Äquivalenzkette des Kalten Krieges ‚Sowjetunion = Unfreiheit = evil empire = Bedrohung des Westens = Schutzmacht USA' für einen wachsenden Teil der Bevölkerung keinen Sinn mehr. Der Anfang vom Ende des Kalten Krieges lässt sich somit in einer zunehmenden Unvereinbarkeit der skizzierten Bedeutungsstrukturen mit den Handlungen der sowjetischen Führung vermuten. Generalsekretär Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse aktualisierten das Metanarrativ des ‚Kalten Krieges' nicht mit jener Konsequenz, wie dies noch ihre Vorgänger getan hatten. Was hier auf Basis sozialtheoretischer Überlegungen zur wechselseitigen Konstitution von agency und structure argumentiert wurde, drückte der Journalist Theo Sommer in der Wochenzeitung Die Zeit zugegebenermaßen deutlich prägnanter und zugespitzter aus:

„Solange die Kremlführer polterten, drohten und mit ihren Raketen herumfuchtelten, hielt das westliche Bündnis zusammen wie Pech und Schwefel. Jetzt aber, wo Michail Gorbatschow das Konfrontationsgehabe seiner Vorgänger abstreift und sein Hauptaugenmerk auf die innere Erneuerung des Entwicklungslandes Sowjetunion richtet, tun sich im Gemäuer der Atlantischen Allianz tiefe Risse auf.“ (Die Zeit, 28. April 1989)

Aus diesen Veränderungen lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass auch das transatlantische Machtverhältnis unter den sich verändernden strukturellen Rahmenbedingungen aktualisiert werden musste. Der Streit über die LANCERaketen wurde zum Kristallisationspunkt für diese Krise des transatlantischen Machtverhältnisses im Lichte des absehbaren Endes des Kalten Krieges. Denn im Zusammenhang mit der Frage der Modernisierung der LANCE-Raketen wur-

de nicht weniger als das Bestimmungsrecht der Alliierten über die Stationierung nuklearer Waffen auf den Gebiet der Bundesrepublik verhandelt. Werner Weidenfeld und Karl-Rudolf Korte (1999) schreiben hinsichtlich der Vorbehaltsrechte und der Souveränität der Bundesrepublik:

„Ein mit der Truppenstationierung zusammenhängendes vorübergehendes Vorbehaltsrecht in Bezug auf den Schutz der Sicherheit ihrer Streitkräfte war mit dem Inkrafttreten der deutschen Notstandsgesetzgebung 1968 erloschen (Art. 5, Abs. 2)“ (Weidenfeld/Korte 1999: 294)

Das Recht zur Stationierung wurde jedoch nach Art. 4 Abs. 2 des Deutschlandvertrages geregelt, der durch die Notstandsgesetzgebung nicht betroffen war – und hiernach hatten die Alliierten das originäre Recht, in Deutschland Streitkräfte zu stationieren. Allerdings bedurfte es der Zustimmung der Bundesregierung. So schreibt Der Spiegel in der Ausgabe 51/1988:

„Denn zum ‚Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte' vom 23. Oktober 1954 gehört eine noch immer ‚streng geheime' Ergänzung: eine Regierungsvereinbarung über die Lagerung von Nuklearwaffen in der Bundesrepublik vom 27. März 1959. Darin ist festgehalten, daß neue Atomwaffen nur mit Zustimmung der Regierungen in Bonn auf westdeutschem Territorium stationiert werden dürfen“ (Der Spiegel, 19. Dezember 1988)

Der Streit über die Modernisierung der LANCE-Raketen wurde somit zu einer politischen Machtfrage zwischen den Bündnispartnern, denn nach der Rechtslage hätte das Bündnis kein LANCE-Nachfolgesystem ohne die Zustimmung der Bundesregierung stationieren dürfen.

Im Folgenden soll dieser Streit im Mittelpunkt der Analyse stehen. Neben einer Darstellung der Positionen der U.S.-amerikanischen, britischen und deutschen Regierung werden mit Hilfe der Grounded Theory die sozialen Praktiken rekonstruiert.

  • [1] Zur Bedeutung der militärischen Präsenz der Alliierten in der Bundesrepublik und deren Auswirkung auf die deutsche Einheit siehe Hellmann (1994)
  • [2] Siehe hierzu die Rede von Ronald Reagan: youtube.com/watch?v=WjWDrTXMgF8 (letzter Zugriff am 12.08. 2012)
  • [3] Der Begriff ‚Sinatra-Doktrin' tauch in der Datenbank LexisNexis zum ersten Mal mit dem zitierten New York Times Artikel auf. In diesem Artikel, in dem Gerasimovs Sinn für Humor im Mittelpunkt stand, wurde auch über einen Auftritt in der Unterhaltungsshow „Wetten, dass …“ berichtet: „'We should swap jokes, not missiles', Mr. Gerasimov declared at the start of ‚Wetten, dass . . . ' ('Bet that . . .'). Mr. Gerasimov's challenge consisted of betting whether two musclemen could hold up a 50-man pipe-and-drum corps. He bet yes and won“ (New York Times, 13. Juni 1989)
 
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