Das Positionspapier der Bundesregierung (April 1989)

Die erste Situation bezieht sich auf die nicht autorisierte Veröffentlichung eines Papiers der Bundesregierung, in dem die Position der Regierungskoalition für die Verhandlungen auf dem NATO-Gipfel 1989 festgelegt wurde. Das Papier wurde durch unbekannte Quellen an die Presse gespielt und sorgte für große Verärgerung und Irritationen, insbesondere in Washington und London, da nur einen Tag zuvor beim NATO-Ministertreffen eine Kompromissformel hinsichtlich der Modernisierung der SNF ausgehandelt wurde, um der Bundesregierung entgegen zu kommen. Der Streit über das Papier des Bundesregierung entzündete sich vor allem an der darin enthaltenen Forderung, wonach ‚baldige' Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Abrüstung der SNF aufgenommen werden sollten, denn dies war gerade noch von der NATO abgelehnt worden.

Hans-Dietrich Genscher berichtet in seinen Memoiren, wie es zur Positionierung der Bundesregierung in der SNF-Debatte kam. Genscher weist insbesondere darauf hin, dass innerhalb der Bundesregierung bis in den April 1989 hinein keine eindeutige Position hinsichtlich der Modernisierungsfrage und der SNF-Verhandlungen zu erkennen war, da vor allem Teile der CDU/CSU Fraktion eine ‚dritte Nulllösung' ablehnten und folglich auch der Aufnahme von Verhandlungen über die SNF skeptisch gegenüber standen (Genscher 1995: 603). Am 18. April 1989 sei es jedoch zu einer ersten Einigung innerhalb der Regierungskoalition gekommen, wonach die deutsche Position zum Gesamtkonzept der NATO folgendermaßen aussehen sollte:

„Die Entwicklung einer neuen Kurzstreckenrakete ist und bleibt einseitige Angelegenheit der USA. Die Verpflichtungen des NATO-Kommuniqués von Reykjavik, Systeme zu modernisieren, wo es notwendig ist, bleiben bestehen. Sollte sich eine solche Notwendigkeit herausstellen, wird eine Entscheidung über Lance erst 1992/92 zu fällen sein. Zwischenzeitlich soll der Westen mit dem Osten, parallel zu den Wiener Gesprächen über die konventionelle Stabilität in Europa über gleiche niedrigere Obergrenzen bei dem System bis zu 500 km verhandeln“ (Genscher 1995: 603)

Das beschlossene Koalitionspapier wurde am 20. April an wesentlicher Stelle noch abgemildert, sodass in der Endfassung lediglich von einer „baldigen“ Aufnahme von Verhandlungen die Rede war und nicht mehr von „parallelen“ Verhandlungen, womit, wie Genscher schreibt, der Zeitrahmen geringfügig erweitert worden war (Genscher 1995: 603). Am 21. April 1989 sickerte die endgültige Fassung des Positionspapiers der Bundesregierung an die Öffentlichkeit durch. Der geteilten Meinung in den hier verwendeten Quellen nach zu urteilen, sei das Positionspapier durch die Bundesregierung selbst an die Presse gespielt (‚geleakt') worden. Der Vorstoß der Bundesregierung lässt sich als ein Artikulationsakt der einseitigen Erklärung betrachten, der eine Kette von Kommunikations- und Interaktionsprozessen zwischen den politischen Hauptakteuren auslöste. Allerdings soll es hierbei weniger um die inhaltlichen Details der Angelegenheit gehen. Diese waren zwar wichtig, um jedoch die Frage zu beantworten, wie das transatlantische Machtverhältnis angesichts dieser Auseinandersetzung ausgehandelt und wiederhergestellt wurde, sollen die sozialen Praktiken der Akteure näher beobachtet werden, die auf den drei skizzierten Untersuchungsebenen (Artikulation/Kommunikation/Interaktion) zu beobachten waren.

Die folgende kleine Medienschau soll dazu dienen, die zu analysierende Situation zu kontextualisieren und ein grobes Stimmungsbild zu zeichnen. Wichtig ist vor allem der Hinweis darauf, dass nur einen Tag vor Veröffentlichung des Positionspapiers der Bundesregierung innerhalb der NATO vereinbart wurde, dass keine Verhandlungen über die SNF aufgenommen werden sollten, denn durch den Vorstoß der Bundesregierung wurden die Pläne der NATO zur Makulatur.

Wie die Washington Post berichtete, hatten sich die amerikanische und die britische Regierung auf einem NATO-Treffen, das nur einen Tag zuvor stattgefunden hatte, darauf verständigt, der Regierung Kohl in der Frage der Modernisierung entgegenzukommen und eine Entscheidung zur Erneuerung der LANCERaketen zu verschieben. Gleichzeitig wurde jedoch die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt über die Abrüstung der SNF abgelehnt. Der Schritt sei einerseits mit Rücksicht auf die zunehmend kritische Haltung der westdeutschen Öffentlichkeit geschehen, aber auch, um Kohl zu stützen, der aufgrund der Angelegenheit innenpolitisch unter Druck geraten sei:

“Today, allied officials who share the U.S. and British position acknowledged that Bonn's position was accepted in part because of the danger of alienating West German public opinion. Polls have shown that a sizable majority of West Germans oppose Lance modernization, and conservative Chancellor Helmut Kohl is already in political trouble over domestic issues. 'The controversy over modernization itself has been defused. If the Germans want to feel that they've won something here, then that's all for the better', an allied official said. Cheney also acknowledged indirectly that Washington found it necessary to defer to Bonn's views. 'You have to play the ball where you find it', Cheney said” (Washington Post, 21. April 1989)

Entsprechend ablehnend und verärgert fielen die Reaktionen in Washington und London aus, nachdem bekannt wurde, dass die Bundesregierung den NATOKompromiss nachträglich durch ihre Neupositionierung für nichtig erklärte. Die

New York Times berichtet unter Verweis auf U.S.-amerikanische Diplomatenkreise:

“[…] by calling for NATO to negotiate with the Soviet Union soon on short-range nuclear missiles and artillery, West Germany has shown for the first time that it is willing to risk steps that could eventually lead to the withdrawal of American troops from Europe” (New York Times, 29. April 1989)

Der Kolumnist Thomas Friedman berichtete für die New York Times und zitiert ein nicht genanntes Mitglied der Bush-Administration mit den Worten:

„'The Germans have not been straight with us', an Administration official said. 'We had an understanding with them on how to deal with this issue. It was an understanding that was sensitive to their position and to ours. They promised to continue engaging in a discussion to sort out our differences, and then they turned around and presented us with a fait accompli. They staked out a public position, without consultations with us'” (New York Times, 30. April 1989a)

In einem Leitartikel des britischen Independent wurde Kohl vorgeworfen, zugunsten innenpolitischer Erwägungen den Zusammenhalt der Allianz zu gefährden. Während er gegenüber den NATO-Verbündeten noch vor kurzem bestätigt habe, die gemeinsame Linie der nuklearen Abschreckung mitzutragen und folglich Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Abrüstung der SNF eine Absage zu erteilen, sei nun eine ‚panische Kehrtwende' vollzogen worden:

His government is unpopular. His coalition partners are putting pressure on him. He fears he will lose the next election. Instead of taking arms against a sea of troubles, he hopes to end them by giving in. It is far from clear that this is a wise tactical move: whatever he offers in the way of friendly gestures towards Mr. Gorbachev, his political opponents can offer more. It is undoubtedly a bad decision in principle. The Chancellor seems to have abandoned any attempt to argue that peace and arms control are better guaranteed by the continued strength of Nato than by splitting the alliance. He has thereby lost a chance to prove his political courage, to show he is a leader rather than a sheep, and to discomfort his opponents by using an excellent argument against them” (The Independent, 24. April 1989)

In einem Artikel der New York Times erhielt Kohl für seine Haltung dagegen Unterstützung. Flora Lewis argumentierte, der ganze Streit über die LANCERaketen sei ohnehin überzogen. Kohl sei bekanntermaßen ein ‚Stümper' (org.:

„bumbler“), doch seine Forderungen seien nicht grundsätzlich falsch. Das Problem bestehe viel eher darin, dass Washington immer noch keine Strategie entwickelt habe, um mit Michael Gorbatschow umzugehen. Die Haltung der NATO sei insgesamt anachronistisch:

“The attitude at NATO can be summarized as: We kept the peace by staying firm and resolute in the trenches. We won. So let's stay in the trenches. Unwillingness to negotiate also stems from fear of a 'third zero', public pressure to remove all nuclear weapons. This is unreasonable, based on the I.N.F. treaty's 'double zero', which was proposed by the U.S. We don't have to make the same mistake again. The German call for negotiations and eventual deployment at lower common ceilings, linked to conventional-force reductions, makes better sense politically and militarily […] Mr. Kohl has been clumsy, but not foolish” (New York Times, 30. April 1989b)

In Deutschland stieß der Vorstoß der Bundesregierung auf breite Unterstützung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker äußerte sich während eines Staatsbesuchs in Dänemark zu dieser Angelegenheit und unterstützte die Forderungen der Regierung (Der Spiegel, 1. Mai 1989). Auch Der Spiegel begrüßte Kohls Haltung in der Raketenfrage:

“Denn diesmal ist so unvernünftig nicht, was der Kanzler und seine Koalition wollen: Ein Votum innerhalb der Nato über eine Modernisierung der Kurzstreckenrakete ‚Lance' und eine Nachfolgewaffe, die viermal so weit fliegen kann, soll dies ein Kernpunkt der Koalitionseinigung – erst 1992, also weit nach dem nächsten Bundestagswahlkampf, fallen. Und vorher sollen sich die Amerikaner in ‚baldigen' Verhandlungen mit den Sowjets mühen, die Zahl der Kurzstreckenwaffen in Ost und West auf ‚gemeinsame Obergrenzen' (so das Koalitionspapier), vielleicht sogar auf null (so die ursprüngliche Idee Genschers) zu reduzieren“ (Der Spiegel, 1. Mai 1989)

Die möglichen Ursachen für das Handeln der Bundesregierung wurden in den Medien immer wieder thematisiert, vor allem Kohls schlechte Umfragewerte und die zunehmende Kritik in der Bevölkerung an seiner Politik werden hierbei als Hauptgründe genannt. In dieser Arbeit soll hierüber nicht weiter spekuliert werden, da nicht die machtpolitischen Gründe des Handelns, sondern dessen machtpolitische Bedeutung erforscht werden. Insofern spielen die unterstellten Motive und mögliche Absichten eine nachrangige Rolle.

Nur wenige Tage nach Veröffentlichung des Papiers erschien in der Washington Post ein Leitartikel, in dem behauptet wurde, in diesem Vorstoß verdichte sich ein Anspruch der Bundesrepublik, eine neue und führende Rolle in den Ost-West Beziehungen einzunehmen. Einerseits zeige sich Bonn gegenüber der Sowjetunion aufgeschlossen und verhandlungsbereit, andererseits scheue man sich nicht, die eigenen Interessen innerhalb des Bündnisses offener zu artikulieren.

“Much of West Germany's diplomatic reluctance has been due to sensitivity about once again asserting its leadership in Europe after German attempts to achieve hegemony by force of arms led to tragic results twice in this century, the analysts said. Today, after four decades of democracy and steadily rising prosperity under the Federal Republic, which marks its 40th birthday next month, a new generation of West German leaders is more willing than before to advance national interests” (Washington Post, 24. April 1989)

Im Christian Science Monitor zitiert Timothy Aeppel den Leiter des Londoner International Institute for Strategic Studies, Francois Heisbourg, mit den Worten:

“'We're used to having the French or the Americans come out with strong national positions – not the Germans. […] This gives the whole debate a different flavor'” (Christian Science Monitor, 3. Mai 1989)

Was in der Washington Post und im Kommentar von Francois Heisbourg angedeutet wurde, ist der explizite Machtanspruch, der im Positionspapier der Bundesrepublik zum Ausdruck kommt. Das Bündnis, also die NATO und mithin die USA, sollten ihre zuvor erklärten Positionen verändern und baldige Verhandlungen mit der Sowjetunion über die SNF aufnehmen, obwohl genau dieser Schritt nur einen Tag zuvor im Rahmen der NATO und mit Billigung der Bundesregierung abgelehnt wurde. Hier wurde also nicht nur ein Interesse der Bundesregierung erklärt, das sich auf eigene Handlungsmöglichkeiten bezog, sondern verlangt, dass andere Akteure ihre Interessen verändern und dem Willen der Bundesregierung anpassen. Mit Blick auf die Machtanalytik von Foucault könnte dieser Vorgang als ein Versuch der Bundesregierung interpretiert werden, um auf das „Handeln anderer einzuwirken“. Nun stellt sich die Frage, wie dieser Machtanspruch verhandelt wurde und welche Erkenntnisse aus den folgenden Kommunikations- und Interaktionsprozessen hinsichtlich der Konstitution des transatlantischen Machtverhältnisses gewonnen werden können.

 
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