Genscher/Stoltenberg in Washington
Nach Anordnung des Bundeskanzlers sollten die beiden Minister Genscher (Auswärtiges Amt) und Stoltenberg (Verteidigungsministerium) am 24. April 1989 nach Washington D.C. reisen, um die Bush-Administration über die Position der Bundesregierung zu informieren. Wie bereits erwähnt, bezeichnete Genscher die Reise nach Washington in seinen Erinnerungen als einen „operativen“ und „psychologischen“ Fehler, da zu diesem Zeitpunkt keine Ergebnisse zu erwarten gewesen seien. In der Retrospektive sei der Besuch jedoch als unersetzliches Glied einer Kette zu betrachten, die schließlich zu einer Einigung auf dem NATO-Gipfel in Brüssel geführt habe (Genscher 1995: 604). Die Blitzreise der beiden Minister wurde auch in den Medien aufmerksam verfolgt. Der Spiegel berichtet:
“Rigoros ließen Baker, Verteidigungsminister Richard Cheney und Sicherheitsberater Brent Scowcroft Kohls Abgesandte auflaufen. Pentagon-Chef Cheney: ‚Es darf keine Denuklearisierung geben, da sind wir uns mit den Briten einig'. Mit einem Seitenhieb auf Margaret Thatcher erwiderte Genscher: ‚Ich bin auch der Meinung, die Bundesrepublik darf nicht auf den niedrigen Bewaffnungsstand der britischen Armee runter'. Die haben ‚weniger Panzer als die Holländer'. Die Bundesrepublik leiste hingegen ‚mit Abstand' den größten Beitrag zur konventionellen Verteidigung Europas“ (Der Spiegel, 1. Mai 1989)
Auch der britische Guardian berichtete über die Konfrontation im deutschamerikanischen Verhältnis, wonach sich Genscher mit seiner Linie gegen Kohl durchgesetzt habe:
“The hasty and confused developments in the West German capital, after details of the paper were leaked, suggest that the Americans are furious at what they see as the complete swallowing of the 'Genscher line' by Dr Kohl's Christian Democrats and the rightwing Bavarian Christian Social Union” (The Guardian, 22. April 1989)
Den Ablauf des Besuchs schildert Hans-Dietrich Genscher ausführlicher in seinen Memoiren. Demnach sei schon der Empfang unterkühlt verlaufen. Präsident Bush habe sogar kurzfristig die Stadt verlassen, obwohl ein Treffen mit den Ministern vorgesehen war, darum hatte ihn Kohl ja auch gebeten. Der Spiegel berichtet:
„Aber als die Westdeutschen dann drei Tage später in Washington zur Rechtfertigung und Erläuterung antraten, fehlte der Präsident demonstrativ – er war nach Norfolk abgereist, um der 47 bei einem Unfall auf dem alten Schlachtschiff ‚Iowa' getöteten Marinesoldaten zu gedenken, die ihr Leben nach amerikanischer Einschätzung auch der Verteidigungsfähigkeit der westlichen Allianz geopfert hatten“ (Der Spiegel, 1. Mai 1989)
Genscher schreibt, Verteidigungsminister Cheney habe die Verhandlungen zwischenzeitlich verlassen, um eine Rede vor der National Defense University zu halten, in der er warnte, nicht in die „gefährliche Falle“ zu tappen, womit er auf die SNF-Verhandlungen mit der UdSSR angespielt habe, die von der Bundesregierung gefordert wurden (Genscher 1995: 604, siehe hierzu auch Der Spiegel, 1. Mai 1989). An diese Vorkommnisse erinnere er sich nur „sehr ungern“ (Genscher 1995: 604).
Schließlich sei es jedoch zu einem offenen Gespräch zwischen ihm und Baker auf der Terrasse des State Departments gekommen, indem er vorgeschlagen habe, die Lage in Ruhe und Sachlichkeit zu diskutieren, schließlich sei die Bundesregierung in
„[…] keinem Falle gewillt, hinzunehmen, dass im Bündnis und im deutsch-amerikanischen Verhältnis in solcher Weise miteinander umgegangen werde. Hier stünden zwei Minister einer Regierung, die aus dem Willen hervorgegangen sei, den NATO-Doppelbeschluss durchzusetzen; ich hätte damals sogar meine politische Existenz für dieses Vorhaben aufs Spiel gesetzt. Auch in Deutschland wisse man, was Sicherheit bedeute“ (Genscher 1995: 604)
Um diese Situation kontextgerecht analysieren zu können, soll näher auf das persönliche Verhältnis zwischen Genscher und Baker eingegangen werden.
Schließlich darf nicht übersehen werden, dass Genscher in den USA alles andere als ein beliebter Gast war – zumal vermutet wurde, dass der Vorstoß der Bundesregierung ein Coup Genschers gewesen sei. Genscher beschreibt in seinen Memoiren, wie sich die Arbeitsbeziehungen zu seinem amerikanischen Amtskollegen entwickelt hatten. Während Bakers Antrittsbesuches in Deutschland habe er mit ihm über die deutsch-amerikanischen Beziehungen gesprochen und deren besondere Bedeutung hervorgehoben, doch auch darauf verwiesen, dass er von einer gegeneinander gerichteten Pressepolitik nichts halte, womit er auf kritische Bemerkungen in deutschen und amerikanischen Medien anspielte, die auf amerikanischen Regierungsquellen beruhten. Diese bezogen sich vor allem auf dessen angeblich ‚weiche' Haltung gegenüber der Sowjetunion (zum sogenannten ‚Genscherismus', siehe Kirchner 1990).
Baker habe diesen Hinweis auch verstanden und ihn schließlich mit einer freundlichen Geste überrascht: „Es sei so förmlich, wenn wir uns mit Herr Minister anredeten, ob wir uns nicht beim Vornamen nennen sollten?“ (Genscher 1995: 594). Obwohl er sich über die vertraulichere Umgangsform freute, bedeutete dies jedoch nicht die Beseitigung der Probleme: „Aber ein ungezwungenes Miteinander kann den Umgang mit Problemen erleichtern“ (Genscher 1995: 594). Baker geht in seinen Memoiren ebenfalls auf sein persönliches Verhältnis zu Genscher ein. So sei er öfters vor Genscher gewarnt worden, schreibt Baker. Der sprichwörtliche ‚Genscherism' gehe dabei auf dessen Davoser Rede aus dem Jahr 1987 zurück, in der er erklärt habe, man solle Gorbatschow beim Wort nehmen. Genscher sei für seine ‚weiche' Haltung gegenüber den Sowjets bekannt, weshalb man ihm in der Reagan-Administration nicht getraut habe (Baker 1995: 88). Er hingegen wollte seinem deutschen Amtskollegen den „benefit of the doubt“ gewähren, wozu er auch vom damaligen U.S.-Botschafter Burt gedrängt worden sei (Baker 1995: 88).
Baker bestätigt in seinen Memoiren, dass es zwischen ihm und Genscher zu der besagten Begegnung auf der Dachterrasse des State Departments gekommen sei, setzt jedoch einen anderen Schwerpunkt:
“I remember later in spring, standing on the eight-floor balcony at the State Department, asking Hans-Dietrich, 'How come everyone over here thinks you're such a bad guy? I don't think you're such a bad guy'. He took the kidding well. I grew to have respect for him, and for his intelligence, his political skills, and his ability to get things done. We went on to become fast friends” (Baker 1995: 88)
Zunächst stellt sich die Frage, welche machtpolitische Bedeutung diese Situation hatte und wie das Machtverhältnis zwischen den Akteuren ausgehandelt wurde. Die Reise der beiden Minister war sowohl Gegenstand des Telefonats zwischen Bush und Kohl als auch zwischen Bush und Thatcher. Wie in den Memoiren Bushs dargestellt wurde, hatte Kohl den U.S.-Präsidenten gebeten, die beiden Minister in Washington zu empfangen. Der Spiegel berichtet jedoch, dass Bush
„demonstrativ“ nach Norfolk gereist war und folglich die Minister nicht empfangen konnte, was auch Genscher bestätigte: „Präsident Bush war nicht einmal in der Stadt“ (Genscher 1995: 603).
Die Abwesenheit des Präsidenten und seine Verweigerung Kohls angeblicher Bitte, er möge die beiden Minister empfangen, erscheint somit eher eine
„symbolische“ als eine „soziale“ Praktik der U.S.-Regierung zur Herstellung und Bekräftigung einer Statusasymmetrie sowie als Ausdruck der Missbilligung des Verhaltens der Bundesregierung. Zumindest scheint das Verhalten des Präsidenten eher Thatchers Forderung („must be firm with Germany“) zu entsprechen, als seiner Aussage, man werde mit den deutschen Ministern vertraulich („privately“) und in gutem Glauben („good faith“) umgehen. Auch die von Genscher berichtete Szene, in der Cheney die Verhandlungen verlassen habe, um eine Rede zu halten, in der er die Position der Bundesregierung noch einmal zurückwies, kann als Bekräftigung des Statusunterschieds von Seiten der U.S.-Regierung interpretiert werden, zumal die Minister Stoltenberg/Genscher und Cheney/Baker protokollarisch auf der gleichen Ebene stehen.
Der Umgang mit den beiden Ministern in Washington scheint zu verdeutlichen, dass Statusasymmetrien zwischen den Akteuren vor allem durch symbolische Praktiken hergestellt werden. Die Abwesenheit des Präsidenten und die Missachtung protokollarischer Gepflogenheiten sind hierbei deutliche Indizien, die – das geht aus der Beschreibung in Genschers Memoiren hervor – ihre Wirkung auf die beiden Minister nicht verfehlten.
Aus den Berichten über das Treffen der Minister in Washington D.C. geht noch ein weiterer Aspekt hervor, der machtpolitisch nicht unwichtig erscheint. Genscher berief sich einerseits auf seine Rolle während der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss, anderseits betonte er die militärischen Lasten der Bundesrepublik und forderte somit seinerseits eine Statusanerkennung ein. Hier wird deutlich, wie der Verweis auf die militärischen Fähigkeiten genutzt wurde, um den Status der Bundesrepublik innerhalb des Bündnisses zu untermauern und eine Statusasymmetrie zu Großbritannien herzustellen:
„[Genscher:] [Die britische Armee, AH)] habe ‚weniger Panzer als die Holländer'. Die Bundesrepublik leiste hingegen ‚mit Abstand' den größten Beitrag zur konventionellen Verteidigung Europas“ (Der Spiegel, 1. Mai 1989)
Militärische und materielle Fähigkeiten spielen in der Herstellung von Statusunterschieden eine erhebliche Rolle. Allerdings kommt es darauf an, wie diese Fähigkeiten ‚aktiviert' werden, das heißt, welche Bedeutung ihnen zugeschrieben und wie beispielsweise Statusansprüche oder Mitspracherechte hieraus abgeleitet werden. Bei Genscher tritt dies deutlich zutage, da er aus dem militärischen Beitrag der Bundesrepublik und deren besonderer Situation („Auch in Deutschland wisse man, was Sicherheit bedeute“) erstens den Anspruch ableitete, dass man nicht gewillt sei, sich so in Washington behandeln zu lassen und andererseits das Recht habe, hinsichtlich der Frage der SNF eine eigene Position zu artikulieren. Der Verweis auf die militärischen Fähigkeiten scheint hier auf eine Praxis hinzudeuten, einerseits den eigenen Statusanspruch zu untermauern, anderseits Macht- und Deutungsansprüche gegenüber Washington zu artikulieren. Neben den militärischen Fähigkeiten setzt Genscher noch seine persönliche Erfahrung und Glaubwürdigkeit ein, um in Washington seinen Statusanspruch zu kommunizieren und den Verdacht, er habe eine weiche Haltung gegenüber der Sowjetunion, zu entkräften:
„Hier stünden zwei Minister einer Regierung, die aus dem Willen hervorgegangen sei, den NATO-Doppelbeschluss durchzusetzen; ich hätte damals sogar meine politische Existenz für dieses Vorhaben aufs Spiel gesetzt“ (Genscher 1995: 604)
In der sozialen Praxis der Aushandlung von Machtverhältnissen spielen die Persönlichkeiten und deren Beziehungen zueinander eine wichtige Rolle. Bislang wurden die Beziehungen zwischen Bush und Kohl, Bush und Thatcher, Genscher und Baker näher betrachtet. Wie sich die Beziehung zwischen Kohl und Thatcher gestaltete, soll in der nun folgenden Situationsanalyse gezeigt werden.