Der Streit über das 10 Punkte Programm
Durch das nun folgende Teilkapitel soll gezeigt werden, wie die bisher gewonnen Erkenntnisse über die Herausbildung des transatlantischen Machtverhältnisses in der sozialen Praxis weiter empirisch gesättigt und theoretisch verfeinert werden können. Das theoretische Grundgerüst dieser Arbeit, das einerseits durch die Auseinandersetzung mit relationalen und praxistheoretischen Machtkonzeptionen entwickelt und durch die rekonstruktive Analyse des LANCE-Streits empirisch ‚verankert' wurde, soll nun durch eine Betrachtung des Streits über das 10 Punkte Programm weiter verdichtet werden.
Die Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik und den Alliierten über Kohls 10 Punkte trug sich wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer zu. Im Mittelpunkt steht nach wie vor die Frage, wie das transatlantische Machtverhältnis durch die sozialen Praktiken der Akteure herausgebildet wurde. Zunächst erfolgt eine Kontextualisierung des Gegenstandes, da im Mittelpunkt der Kontroverse über Kohls 10 Punkte Programm die zentrale Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer deutschen Wiedervereinigung stand. Auch wenn diese Frage erst nach dem Fall der Berliner Mauer virulent wurde, so darf nicht vergessen werden, dass dieses Thema bereits in den Monaten und Jahren davor immer wieder auftauchte. Eine deutsche Wiedervereinigung war bis zur Veröffentlichung des 10 Punkte Programms mit spezifischen Bedeutungsmustern besetzt, die es zunächst herauszuarbeiten gilt, um den diskursiven Rahmen aufzuzeigen, in dem das Thema verhandelt wurde.
Die politische Ausgangslage
Die deutsche Wiedervereinigung war unter den Bedingungen des Kalten Krieges ein Thema, das sowohl in nationalen als auch in internationalen Medien rein hypothetisch behandelt wurde. So berichtete der Spiegel im April 1978 von einer Umfrage unter deutschen Schülern über deren Ansichten und Gedanken bezüglich einer deutschen Wiedervereinigung. Doch nicht nur die Auswertung der Schulaufsätze habe vor allem „Desinteresse“ und „Wissensdefizite“ zutage gefördert:
“Außer Emotionalem und Spekulativem wissen auch erwachsene Bundesbürger dazu meist nichts Rechtes – und auch nichts Linkes beizutragen, so wenig ist die Frage selbst von dieser Welt. Und wer […] gar wissen will, ‚wann' die Einheit kommt, fordert zum realitätsfernen Fabulieren geradezu heraus” (Der Spiegel, 10. April 1978)
Anlässlich des geplanten Besuches von Erich Honecker im Jahr 1984 in Westdeutschland wurde auch die sogenannte ‚deutsche Frage' in den Medien verstärkt thematisiert. Die New York Times griff das Thema im August 1984 auf, nachdem U.S.-Präsident Ronald Reagan bei einem Luncheon im Weißen Haus anlässlich des 40. Jahrestages des Warschauer Aufstandes die Teilung Europas als Ergebnis der Jalta-Konferenz von 1945 hinterfragte. Demnach habe der Präsident einer gängigen Interpretation der Jalta Konferenz eine Absage erteilt, wonach die USA eine Teilung Europas in bestimmte Einflusssphären akzeptieren würden. So berichtet die Zeitung, Reagan habe behauptet, die USA könne die ‚dauerhafte Unterdrückung der Menschen in Ostereuropa nicht hinnehmen' und habe deren Selbstbestimmungsrecht betont (New York Times, 19. August 1984; Übersetzung AH). Die New York Times berichtet in ihrem Artikel auch über die Reaktionen der sowjetischen Staats- und Parteiorgane Prawda und Tass, die Reagan vorwarfen, die gleichen ‚revanchistischen Töne anzuschlagen', die auch aus Westdeutschland zu vernehmen seien, wonach eine deutsche Einheit angestrebt werde. Damit reagiere Moskau, so die Einschätzung der Zeitung, auf die sich anbahnende Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen, die auch durch einen anvisierten Besuch des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Bonn symbolisiert worden wären.
Honecker sagte seine Reise im September 1984 jedoch ab. Damit war die aufkeimende Diskussion über eine Wiedervereinigung vorerst beendet. Anlässlich des Besuches von U.S.-Präsident Reagan in Berlin im Jahre 1987 und seiner berühmte Rede, in der er Gorbatschow dazu aufrief ‚tear down this wall', kehrte die deutsche Frage kurzzeitig zurück. Frank Getlein, ein US-amerikanischer Kolumnist, griff sie in einem in einem op-ed für die Washington Post direkt auf, um die von Reagan vage angedeutete Lösung der deutschen Frage zu problematisieren. Unter dem vielsagenden Titel Keep Germany Divided – The Dirty Little Secret Is That It Means a Europe at Peace argumentierte der Autor, dass die Teilung Deutschlands den Ausbruch eines ‚dritten Weltkrieges' verhindert habe. Für viele seiner Landsleute wäre die deutsche Teilung eine Tragödie, die ausgerechnet über einen der treuesten Verbündeten der USA gekommen sei. Deutschland müsse, so die gängige Ansicht, wie jedes andere Land auch das Recht haben sich zu vereinigen (Washington Post, 14. Juni 1987). Allerdings sei der dauerhafte Frieden zwischen beiden Blöcke auch das Ergebnis der deutschen Teilung:
“All one can say is that never in the history of humanity has a huge arms buildup ever led to anything but war. And, on the other hand, never has German unification ever been achieved by or led to anything but war” (Washington Post, 14. Juni 1987)
Man mag einem Kolumnisten die Zuspitzung seiner These nachsehen, doch aktualisiert diese Aussage ein Grundnarrativ, das im Rahmen des Wiedervereinigungsdiskurses immer wieder bemüht wurde: die Sorge vor einer Rückkehr des deutschen Großmachtstrebens und der damit einhergehenden Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Bedeutungsäquivalenz, die zwischen einer Wiedervereinigung, der Rückkehr des Großmachtstrebens und der hieraus resultierenden Instabilität Europas hergestellt wurde: Deutsche Wiedervereinigung = machtpolitischer Aufstieg = Rückkehr des Großmachtstrebens/deutsche ‚Hegemonie' = Instabilität in Europa = Krieg.
Das Narrativ des deutschen Großmachtstrebens wurde auch in einem anderen Artikel der Washington Post bemüht, der anlässlich des Honeckers Besuches im September 1987 erschienen ist, und die wichtige polnische Perspektive zur deutschen Frage darstellte. Jackson Diehl war damals Auslandskorrespondent für die Zeitung in Warschau. Diehl berichtete vor allem über die polnischen Sorgen, die mit einer zunehmenden Annäherung und ‚Normalisierung' der deutschdeutschen Beziehungen verbunden waren. So hatte insbesondere die Regierung in Warschau die Befürchtung, eine weitere Annäherung könne nicht nur der Forderung nach einer Wiedervereinigung Vorschub leisten, sondern auch Ansprüche auf Gebiete des ehemaligen Deutschen Reiches nähren, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Polen zugeschlagen wurden (Washington Post,
13. September 1987). Diehl geht hierbei besonders auf die historischen Erfahrungen der Polen ein, da diese im Laufe der Geschichte immer wieder unter deutsche (Zwangs-) Herrschaft geraten seien. Diehl sieht die zunehmenden Spannungen zwischen Ost-Berlin und Warschau dabei in einer Reihe von Konflikten etwa zwischen Rumänien und Ungarn, die gerade zu dieser Zeit aufbrachen[1]. Glasnost führe zu neuen Schwierigkeiten und Konflikten, zitiert Diehl den polnischen Außenminister Marian Orzechowski und man sei gerade dabei zu lernen, wie man mit diesen Problemen offen umzugehen habe. Angesprochen auf die deutsche Frage habe Orzechowski in einem Interview für die Polnische Zeitung Polityka recht ungehalten reagiert:
“[Orzechowski:] [East and West Germany] are permanent elements of Europe's political map. Their existence is a precondition and guarantee of the 42-year-old peace in Europe. A change in this status quo would signal the destruction of Europe as it actually exists” (Washington Post, 13. September 1987)
Daneben verweist Diehl jedoch auch auf die Stimmen einiger osteuropäischer Dissidenten, die in einem wiedervereinten und ‚neutralen' Deutschland auch die Chance zu mehr Eigenständigkeit und Souveränität ihrer eigenen Länder sehen würden. Deren Hoffnungen stützen sich darauf, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands sowohl die NATO als auch den Warschauer Pakt schwächen und somit einen wirtschaftlichen Austausch zwischen den kapitalistischen und sozialistischen Staaten ermöglichen würde. Einerseits knüpft Diehl an das bereits skizzierte Narrativ an, wonach eine Wiedervereinigung Deutschlands die Gefahr eines ‚Großmachtstrebens' in sich berge, das insbesondere aus polnischer Sicht höchst bedenklich sei und entsprechende Erinnerungen wach rufe, andererseits stellte er die Stimmen osteuropäischer Dissidenten dar, die sich eine deutsche Einheit wünschten. Allerdings werden diese ‚Wunschvorstellungen' mit zwei aus westlicher Sicht inakzeptablen Bedingungen verknüpft: die Neutralität eines wiedervereinigten Deutschlands und eine damit einhergehende Schwächung der NATO. Somit wurde die deutsche Einheit zu einem transatlantischen Problem und zu einer Herausforderung der amerikanischen Vormachtstellung erklärt. Auch hier lässt sich eine Bedeutungsgleichung mit politischen Implikationen ableiten: deutsche Wiedervereinigung = Neutralität = Schwächung der NATO = Ende der U.S.-Vormachtstellung in Europa.
Durch den Blick in Medien lassen sich zunächst zwei grundlegende Bedeutungsmuster identifizieren, die eine deutsche Wiedervereinigung vor 1989 problematisieren. Einerseits wurde, basierend auf historischen Bezügen, ein Narrativ entwickelt, das die Wiedervereinigung mit einem ‚deutschen Großmachtstreben' verknüpft und somit zu einer Gefahr für die Stabilität und den Frieden Europas werden lässt. Andererseits erscheint eine Wiedervereinigung nur unter den Bedingungen der ‚Neutralität' möglich, wodurch die Stabilität des atlantischen Bündnisses und mithin die Stellung der USA in Europa gefährdet worden wäre. Beide Narrative zeigen, wie eine deutsche Wiedervereinigung unter den Bedingungen des Kalten Krieges diskursiv ausgeschlossen wird und als faktisch unmöglich erscheint.
Mit dem politischen Wechsel in Washington flammte die Debatte über eine deutsche Wiedervereinigung von neuem auf. Die Debatte war im Frühjahr 1989 in Washington jedoch hoch umstritten und sollte eigentlich unter Verschluss gehalten werden. Rice/Zelikow berichten von den Auseinandersetzungen im März 1989 über das Dokument NSR-5, in dem die Grundlagen der U.S.amerikanischen Deutschlandpolitik festgelegt wurden. Die scheidende Abteilungsleiterin Rozanne Ridgway habe im Erhalt des Status quo eine Quelle des Friedens gesehen und eine Wiederbelebung der deutschen Frage für unklug gehalten (Rice/Zelikow 1999: 55). Allerdings habe es latenten Unmut in Regierungskreisen über den Versuch gegeben, die Debatte im Keim zu ersticken, weshalb unter der Leitung Scowcrofts ein weiteres Memorandum verfasst wurde, in dem die deutsche Frage direkt angesprochen wurde:
„Selbst wenn wir bei der Überwindung der Teilung Europas durch Offenheit und Pluralismus Fortschritte machen, ist keine Vision des künftigen Europas denkbar, die nicht auch eine Stellungnahme zur ‚deutschen Frage' enthielte. In dieser Hinsicht können wir zwar keine sofortige politische Wiedervereinigung versprechen, sollten aber irgendein Angebot der Veränderung, der Bewegung abgeben. […] Die offizielle alliierte Position ist es seit langem, dass wir den Wunsch haben, dass das deutsche Volk seine Einheit in Selbstbestimmung wiedererlangt. Ich denke, wir können in Zusammenarbeit mit Bonn diese Formel verbessern, […] dass sie ein klares Signal an die Deutschen darstellt, dass wir bereit sind mehr zu tun, sobald es die politische Großwetterlage zulässt“ (Rice/Zelikow 1998: 58)
Nach dem Jubiläumsgipfel im Mai 1989 reiste der U.S.-Präsident nach Mainz, um Helmut Kohl in dessen Heimat zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit hielt Bush eine Rede mit dem Titel „Europe Whole and Free“, deren politische Bedeutung erst gegen Ende des Jahres 1989 deutlich wurde.
“The United States and the Federal Republic have always been firm friends and allies, but today we share an added role: partners in leadership. Of course, leadership has a constant companion: responsibility. And our responsibility is to look ahead and grasp the promise of the future. I said recently that we're at the end of one era and at the beginning of another. And I noted that in regard to the Soviet Union, our policy is to move beyond containment. For 40 years, the seeds of democracy in Eastern Europe lay dormant, buried under the frozen tundra of the Cold War. (…) But the passion for freedom cannot be denied forever. The world has waited long enough. The time is right. Let Europe be whole and free. To the founders of the alliance, this aspiration was a distant dream, and now it's the new mission of NATO. If ancient rivals like Britain and France, or France and Germany, can reconcile, then why not the nations of the East and West? (…) The frontier of barbed wire and minefields between Hungary and Austria is being removed, foot by foot, mile by mile. Just as the barriers are coming down in Hungary, so must they fall throughout all of Eastern Europe. Let Berlin be next -let Berlin be next! Nowhere is the division between East and West seen more clearly than in Berlin. And there this brutal wall cuts neighbor from neighbor, brother from brother. And that wall stands as a monument to the failure of communism. It must come down.” (Bush 1989b, Herv. AH)
Der U.S.-Präsident spricht in seiner Rede drei wesentliche Themenkomplexe an. Zunächst bezieht er sich mit der Formel partners in leadership auf die neue Verantwortung Deutschlands in einem geeinten Europa. Robert Hutchings schreibt, dass die Gedanken des zitierten Memos wesentlich zu Bushs Mainzer Rede beigetragen hätten, macht dabei jedoch unmissverständlich klar, dass die berühmte Formel einer ‚Partnerschaft in der Führung' zwar sentimental klingen mag, dahinter jedoch handfeste wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen der U.S.-Regierung standen (Hutchings 1997: 31). Diese leiteten sich insbesondere aus dem Transformationsprozess in Osteuropa ab. Bushs Rede enthält die Forderung, wonach die NATO in diesem Prozess eine wesentliche Rolle spielen müsse, da sie bereits in der Vergangenheit gezeigt habe, dass Aussöhnung und die Schaffung sicherheitspolitischer Stabilität zu ihren Kernfähigkeiten zählten. Der dritte Aspekt bezieht sich unmittelbar auf die deutsche Frage und Bushs Formulierung, dass die Mauer fallen müsse („It must come down“). Dabei aktualisiert er zwar die Forderung Reagans („Mr. Gorbachev, tear down this wall“), bleibt im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der Gorbatschow persönlich zum Handeln aufforderte, in seiner Formulierung jedoch unspezifisch und lässt offen, durch wen die Mauer beseitigt werden solle.
Der U.S.-amerikanische Kolumnist William Pfaff diskutierte die Frage der ‚deutschen Einheit' vor dem Hintergrund des Streits über die Modernisierung der in Deutschland stationierten nuklearen Kurzstreckenraketen. Er argumentiert, dass eine Wiedervereinigung eines ‚neutralen Deutschlands' mit wohlwollender Unterstützung der Sowjetunion der größte ‚Albtraum' Zentraleuropas sei. Relativierend fügt er an, dass es zwar keine Anzeichen gäbe, wonach Westdeutschland ein Interesse daran hätte, die politische und wirtschaftliche Ausrichtung nach Westen aufzugeben, denn schließlich kämen von dort die ‚harten Devisen' für Deutschlands Wirtschaft. Vielmehr müsse es um eine Transformation und Liberalisierung Osteuropas gehen, wodurch die Sicherheit beider Seiten gewahrt wäre. Schließlich hätten aber weder ‚der Westen' noch ‚der Osten' ein Interesse an der deutschen Einheit, die auch von einer informierten westdeutschen Öffentlichkeit so geteilt werde (St. Louis Post-Dispatch, 17. Februar 1989). Pfaff führte durch seinen Verweis auf die Transformation und Liberalisierung Osteuropas eine weitere Dimension in die Debatte über die ‚deutsche Frage' ein. Zwar spricht er sich deutlich gegen eine Wiedervereinigung aus, da hierdurch die Stabilität Europas gefährdet wäre, verweist jedoch auf die grundlegenden Veränderungen, die in den Staaten des Warschauer Pakts und der Sowjetunion im Gange seien. Insofern müsse das Thema einer deutschen Einheit in einem größeren Kontext der demokratischen Transformation Osteuropas behandelt werden.
In einem New York Times-Artikel, der am 19. April 1989 erschienen ist, finden sich erste Hinweise in den Medien, wie die neue U.S.-Regierung auch offiziell zum Thema einer deutschen Einheit stand:
“A senior official in the Bush Administration said recently, for example, that the United States could no longer consider German unification an impossible Teutonic dream 'because the East Germans and the West Germans are going to think more seriously about it than we would like'” (New York Times, 19. April 1989)
In diesem Artikel geht es vorwiegend um den Streit innerhalb der Allianz über die LANCE-Raketen und die Herausforderung durch Gorbatschows Reformpolitik und weniger um die Perspektive einer deutschen Einheit. Ein op-ed in der New York Times griff das Einheitsthema jedoch wenige Wochen später wieder
auf, nachdem Michail Gorbatschow in Westdeutschland mit den begeisterten Rufen ‚Gorbi-Gorbi' empfangen wurde, während U.S.-Präsident Bush bei seinem Deutschland Besuch nur wenige Wochen zuvor zwar höflich, aber keinesfalls überschwänglich begrüßt worden sei. Gorbatschow ‚verführe' die Deutschen zur ‚Neutralität', in dem er ihnen die Erfüllung ihres sehnlichsten Zieles in Aussicht stelle: die deutsche Einheit – zumindest hätten einige besorgte Amerikaner die sehr unterschiedlichen Begrüßungen der beiden Staatsgäste in Deutschland in diese Richtung gedeutet (New York Times, 21. Juni 1989). Allerdings schlägt der Kommentar in seiner Bewertung der ‚deutschen Frage' eine andere Richtung ein. Die Deutschen wünschten sich schließlich nichts mehr als eine friedliche Zukunft ohne militärische Ost-West Konfrontation und diese Hoffnungen seien mit Gorbatschow verknüpft. Hinsichtlich der deutschen Einheit knüpft der Autor an den bereits von Pfaff angedeuteten größeren Kontext des osteuropäischen Transformationsprozesses an:
“Neither Germany has ever renounced the goal of reunification, but West Germany's ties to NATO remain a reality Mr. Gorbachev accepts. Indeed, if there is a new shared vision, it is that German unification might be transcended by greater integration of the two Europes” (New York Times, 21. Juni 1989)
Die demokratische Transformation Osteuropas ließe das Ziel einer deutschen Wiedervereinigung nach diesem Narrativ in einem neuen Lichte erscheinen und so taucht durch das ‚Transformationsnarrativ' ein neues Deutungsmuster im Diskurs auf, wonach die Wiedervereinigung vor dem Hintergrund der allgemeinen Veränderungsprozesse nicht mehr kategorisch ausgeschlossen erscheint.
Ende Juli 1989 erschien in der Washington Post ein weiterer Artikel, in dem Marc Fisher, Auslandskorrespondent der Zeitung, die Lage Deutschlands ebenfalls hinsichtlich der Frage nach einer Wiedervereinigung reflektiert. Fisher skizziert die zwei grundlegenden Visionen eines zukünftigen Europas, das von George Bush mit den Worten ‚whole and free' umrissen wurde, während sich Gorbatschow auf die Metapher eines ‚common European home' festgelegt habe. Obwohl beide Staatsmänner zumindest die Hoffnung verbinde, die Teilung Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges friedlich zu überwinden, läge ein grundlegendes Problem dazwischen: das geteilte Deutschland. Fisher zitiert aus einer Rede Bushs vor dem polnischen Parlament die Worte:
“[Bush:] The genuine opportunity exists for all of us to build a Europe which many thought was destroyed forever in the 1940s. That Europe, the Europe of our children, will be open, whole and free” (Washington Post, 27. Juli 1989)
In seiner Einschätzung dieser Worte gelangt der damalige Direktor des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) in Washington, Robert Gerald Livingston, zu dem Ergebnis, dass diese zwar implizierten, dass auch Ostdeutschland frei sein solle, „but does it imply that the two Germanys should be made whole again? That is left unsaid“ (Washington Post, 27. Juli 1989).
Fisher berichtet unter Berufung auf das State Department und das Kanzleramt in Bonn, dass diese Unbestimmtheit in den Äußerungen durchaus beabsichtigt sei. Bush wolle den Prozess der Annäherung zwischen West- und Ostdeutschen nicht durch unbedachte Äußerungen über eine hypothetische deutsche Wiedervereinigung beeinflussen, zumal die Lage unübersichtlicher werde. Fisher betont, dass U.S.-Präsidenten zwar in der Vergangenheit immer wieder den Abriss der Berliner Mauer gefordert und den Wunsch nach einer deutschen Einigung artikuliert hätten, in der gegenwärtige Situation jedoch auf eher unterkühlte Reaktionen stießen. So zitiert er Egon Bahr, der das ‚Gerede' über eine deutsche Einheit für ‚verrückten Unsinn' hält:
“[Bahr:] If you speak of European unity and West European economic union, you do not speak of German unification” (Washington Post, 27. Juli 1989)
Fisher zitiert auch den Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Karl Kaiser, der zu bedenken gibt, dass in den USA die Debatte über die deutsche Wiedervereinigung deutlich ernster genommen werde als in Deutschland selbst. Doch der Gedanke, Deutschland strebe eine Vereinigung an, da dessen wirtschaftliche Zukunft im Osten läge, sei abwegig (Washington Post, 27. Juli 1989).
Fishers Artikel wirft noch einmal ein neues Licht auf die Debatte über die deutsche Wiedervereinigung, da sie die bis dahin offizielle Zurückhaltung der U.S.-Regierung erläutert und Westdeutschland nicht als treibende Kraft eines Einigungsprozesses dargestellt wird. Hierdurch entsteht ein Gegennarrativ zu den drei bislang skizzierten Narrativen, die im Grunde auf der Annahme basieren, eine Wiedervereinigung läge vor allem im Interesse Westdeutschlands, sei es aus historischen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen. Hier wird allerdings deutlich, dass die Debatte über eine deutsche Wiedervereinigung nicht aus Deutschland heraus gefördert wurde:
“With many West German leaders trying to ignore the 'German Question' for now, the most impassioned calls for reunification these days come from the United States” (Washington Post, 27. Juli 1989)
Bis Juni/Juli 1989 scheinen vor allem drei Narrative hinsichtlich des hypothetischen Falles einer deutschen Einheit dominant gewesen zu sein. Einerseits wird argumentiert, Deutschland könne durch eine Wiedervereinigung in ein altes Rollenmuster zurückfallen und zu einer Gefahr für die Stabilität Europas werden. Ein weiteres Narrativ basiert auf der Annahme, dass eine deutsche Wiedervereinigung notwendigerweise mit einem Austritt aus der NATO und einer deutschen
‚Neutralität' verbunden wäre, wodurch das westliche Bündnis erheblich geschwächt werden würde. Ein drittes Narrativ rückt dagegen die demokratische Umwälzung der Warschauer Pakt Staaten in den Vordergrund, die eine deutsche Einheit zunächst nicht unbedingt notwendig erscheinen lassen. Demnach wäre die Koexistenz zweier demokratisch verfasster deutscher Staaten vorstellbar.
Mit der Wahl Tadeusz Mazowieckis als erster nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten Polens seit Ende des Zweiten Weltkrieges am 24. August 1989 sowie den zunehmenden Flüchtlingsströmen im September und Oktober stieg auch die Zahl der Berichte und Artikel über die Veränderungsprozesse in Osteuropa und der DDR erheblich an. In nahezu jedem Artikel, der sich mit Fragen der internationalen Politik befasste, wurde auch die ‚deutsche Frage' angeschnitten. Während William Pfaff Ende September eine Wiedervereinigung noch einmal als ‚Gefahr für den Frieden' bezeichnete, wurde in der U.S.Ausgabe der Newsweek vom 16. Oktober 1989 die ‚deutsche Frage' hingegen sehr differenziert diskutiert, wobei ein neuer Vorschlag auftauchte, der in den USA vor allem von Henry Kissinger propagiert wurde. Demnach müsse es darum gehen, die beiden deutschen Staaten zu erhalten, jedoch Schritt-für-Schritt die staatlichen Strukturen zu verschmelzen, was letztlich dazu führen könnte, beide Staaten in eine ‚Konföderation' zu überführen und Ostdeutschland zu demilitarisieren (Newsweek, 16. Oktober 1989).
Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zeichnete sich erhebliche Verunsicherung darüber ab, wie der Prozess weiter vollzogen werden sollte. Am 14. November sprach Henry Kissinger in eine Rede vor dem World Affairs Council in Philadelphia davon, dass die Einheit Deutschlands ‚unvermeidbar' sei, auch wenn dies nicht unbedingt eine ‚wünschenswerte' Entwicklung sei. Allerdings könne es sich die US-Regierung nicht erlauben, als Gegner der Einheit wahrgenommen zu werden. Damit der Prozess friedlich verlaufe, müsse eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa entwickelt werden (New York Times, 19. November 1989). Paul Nitze gab indessen zu bedenken, dass die Einheit nicht unausweichlich sei, da auch eine Lösung vorstellbar sei, nach der beide Staaten unabhängig bleiben, aber sehr enge Beziehungen zueinander pflegen könnten. Zbigniew Brzezinski sprach sich ebenfalls für eine Konföderation im Rahmen eines gesamteuropäischen Sicherheitsarrangements aus, in dem die Interessen Polens, Frankreichs und der anderen europäischen Staaten berücksichtigt werden sollten (New York Times, 19. November 1989).
In der deutschen Presse war die Meinungslage ebenfalls unübersichtlich. So entwickelte sich im Spiegel eine Debatte zwischen Erich Böhme und Rudolf Augstein über das Pro und Contra einer Wiedervereinigung. Böhme plädierte dafür, die DDR zu erhalten aber nach ‚Westen' hin zu öffnen, damit notwendige Strukturmaßnahmen durchgeführt und Produktivität freigesetzt werden könne:
„[Böhme:] Wirtschaftliche Reformen dort und ökonomisch sinnvolle Kredite hier nützen einem Zusammenwachsen beider Deutschland. […] Das alles hat mit ‚Wieder'-Vereinigung im Sinne der westdeutschen Berufsvertriebenen und nationalistischer oder sentimentaler GesamtDeutschland-Schwärmer nichts zu tun“ (Der Spiegel, 30. Oktober 1989)
Böhme verweist noch auf einen anderen Aspekt, nach dem er eine Wiedervereinigung als eine Gegenentwicklung zur europäischen Integration sieht:
„Wer sagt denn, daß ein zusammenwachsendes Deutschland – beneidet oder gefürchtet, hingenommen oder bekämpft – wichtiger sei als ein zusammenwachsendes Europa? Sind vereinigte Ost- und Westdeutsche wichtiger als vereinigte Ost- und Westeuropäer?“ (Der Spiegel, 30. Oktober 1989)
Rudolf Augstein zieht die von Böhme aufgestellte Gleichung, wonach eine Wiedervereinigung Deutschlands notwendigerweise eine Absage des europäischen Integrationsprozess bedeute, in Zweifel. Zwar bestehe diese Gefahr durchaus, doch könne dies nicht mit Sicherheit behauptet werden:
„Erich Böhme macht eine Rechnung auf, die dem Staatsoberhaupt von Weizsäcker und dem Außenminister Genscher erlaubt, ja vorgeschrieben sein mag: ‚Europe first'. Aber auch das läßt sich ja nicht dekretieren. Wir haben es hier mit zwei, vielleicht nur scheinbar gegenläufigen, Bewegungen zu tun. Wir wissen nicht, was schwieriger zu bewältigen ist, die expandierende europäische Einigung – wo soll sie enden, am Ural etwa? – oder die Beendigung der bisherigen deutschen Geschichte mit einem Neuanfang“ (Der Spiegel, 6. November 1989)
Augstein spricht sich unterdessen eindeutig für einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten aus, wenngleich nicht unter allen Umständen. Das Kernargument für die Einigung basiert auf der Überzeugung, dass hierdurch die ‚Besatzung' Deutschlands beendet wäre:
„Und darum sollen alle vier Siegermächte aus Berlin verschwinden, sofern sie sich über eine neue Friedensordnung einigen können. Sie werden dann nicht mehr gebraucht, sie fallen uns dann nur noch zur Last” (Der Spiegel, 6. November 1989)
Innerhalb der Allianz herrschte seit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 eine erhebliche Verwirrung darüber, wie man nun weiter verfahren solle. Zwar wurden zahlreiche Ideen und Konzepte diskutiert, doch zeichnete sich keine klare Linie ab, die von allen Partnern getragen wurde. Inmitten dieser unübersichtlichen Gemengelage veröffentlichte die Bundesregierung ein Programm, das die stufenweise Umsetzung der deutschen Wiedervereinigung vorsah:
Punkt 1: humanitäre Sofortmaßnahmen, insbesondere Reisefreiheit:
„Wir werden im humanitären Bereich und auch bei der medizinischen Versorgung helfen, soweit dies gewünscht wird und auch nützlich ist“.
Punkt 2: wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der DDR:
„Die Bundesregierung wird wie bisher die Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugutekommen. Das gilt insbesondere für die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und kulturelle Zusammenarbeit“.
Punkt 3: Wandel des politischen/wirtschaftlichen Systems der DDR:
„Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligung unabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtsozialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED muss aufgehoben werden“.
Punkt 4: Herstellung einer Vertragsgemeinschaft, weitere Institutionalisierung bestehender Kooperationen:
„Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen. Denn die Nähe und der besondere Charakter der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland erfordern ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen“.
Punkt 5: Schaffung konföderativer Strukturen zur Errichtung einer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland:
„Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. […] Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“
Punkt 6: Einbettung des Einheitsprozesses in den europäischen Integrationsprozess:
„Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozeß, das heißt immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muß sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westen mit seinem Konzept der dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Schrittmacherdienste geleistet.“
Punkt 7: Aufnahmemöglichkeit reformorientierter Ostblockstaaten in die EG:
„Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung. Wir wollen und müssen sie weiter stärken. Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt gefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformorientierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzugehen […] Hierbei ist die DDR selbstverständlich eingeschlossen.“
Punkt 8: Stärkung des KSZE Prozesses:
„Der KSZE-Prozeß ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen: die Menschenrechtskonferenzen in Kopenhagen 1990 und in Moskau 1991, die Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn 1990, das Symposion über das kulturelle Erbe in Krakau 1991 und nicht zuletzt das nächste Folgetreffen in Helsinki.“
Punkt 9: Abrüstung und Rüstungskontrolle:
„Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen mit der politischen Entwicklung Schritt halten und, wenn notwendig, beschleunigt werden.“
Punkt 10: Wiedervereinigung:
„Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, d.h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“ (Kohl 1989b)
Das sogenannte ‚10 Punkte Programm' wurde von Bundeskanzler Kohl in einer Regierungserklärung im Rahmen der Haushaltsdebatte am 28. November 1989 verkündet. Auch wenn das 10 Punkte Programm nur wenige Wochen nach seiner Veröffentlichung von der Geschichte eingeholt wurde gilt es bis heute als Meilenstein auf dem Weg zu deutschen Einheit und sicherlich als eines der wichtigsten Dokumente deutscher Außenpolitik nach 1945. Das 10 Punkte Programm wurde unmittelbar nach seiner Veröffentlichung zu einem Streitgegenstand innerhalb des Bündnisses und führte zu einer diplomatischen Abkühlung vor allem zwischen Bonn und Moskau, aber auch zu den anderen europäischen Partnern. Lediglich die U.S.-Regierung verteidigte Kohls Programm, fügte jedoch einen eigenen Stufenplan als Ergänzung an. Vergleichbar zur Veröffentlichung des Positionspapiers der Bundesregierung im Streit über die LANCE-Raketen brachte auch die Artikulation des 10 Punkte Programms das sprichwörtliche ‚Fass' zum überlaufen. Ausgelöst durch Kohls Rede wurde die ‚deutsche Frage' zu einem machtpolitischen ‚Zankapfel' innerhalb der Allianz, weshalb sich diese Auseinandersetzung besonders eignet, um die Frage nach der Herausbildung des transatlantischen Machtverhältnisses in der sozialen Praxis weiter zu analysieren.
- [1] Zwischen der DDR und Polen war es zu dieser Zeit tatsächlich zu Gebietsstreitigkeiten über einen Zugang zur Baltischen See gekommen, die beide Seiten an den Verhandlungstisch zwangen.