Die Entstehung des Dokuments

Kohl skizziert sowohl in seinen Memoiren als auch in seinem Buch Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung (2009) die politische Ausgangslage, die ihn dazu bewogen habe, in die ‚Offensive' zu gehen und durch das 10 Punkte Programm einen Weg zur deutschen Einheit aufzuzeigen. Demnach seien bereits auf dem EG-Sondergipfel in Paris am 18. November 1989 erhebliche Vorbehalte Großbritanniens und Frankreichs gegenüber der deutschen Einheit offenkundig geworden (Kohl 2005: 983). Kohl berichtet über einen Vorfall, der sich während des Dinners ereignet haben muss. Obwohl die deutsche Wiedervereinigung auf diesem Gipfel weder offizielles noch inoffizielles Thema war, sei Margaret Thatcher während des Desserts mit Vorwürfen auf ihn losgegangen, wonach er die ‚Einheit' forciere. Kohl schreibt, er habe die Attacken mit Verweis auf entsprechende NATO-Beschlüsse gekontert, in denen die Wiedervereinigung begrüßt werde, woraufhin Thatcher unumwunden bemerkt habe, diese Beschlüsse stammten aus einer Zeit, in der ohnehin niemand an eine Einheit Deutschlands geglaubt habe. Kohl entgegnete, dass diese Beschlüsse nach wie Gültigkeit besäßen und auch die britische Premierministerin das deutsche Volk nicht daran hindern können, „seinem Schicksal zu folgen“; daraufhin habe Thatcher außer sich vor Wut mit den Füßen gestampft und den Kanzler angeschrien (Kohl 2005: 984; Kohl 2009: 110)

Kohl schreibt weiter, von Mitterrand habe er auf dem Gipfel in Paris den Eindruck gewonnen, dass dieser die kritische Haltung Thatchers billige. Außerdem sei nur wenige Tage später verkündet worden, dass der französische Staatspräsident plane, die DDR Ende Dezember 1989 besuchen zu wollen, wodurch Kohl eine Aufwertung des Ost-Berliner Regimes befürchtete, weshalb er sich entschloss, Mitterrands Besuch zuvorzukommen und Hans Modrow am 19. Dezember in Dresden zu treffen (Kohl 2005: 987). Folglich beschreibt Kohl, dass er sich auf Frankreich in der Frage der deutschen Wiedervereinigung habe nicht verlassen können und ihm von Seiten der britischen Premierministerin eine offene Ablehnung entgegen geschlagen sei (Kohl 2009: 111).

Kohl verweist auf die Befürchtungen, die von allen Seiten gegen eine deutsche Wiedervereinigung erhoben wurden. So sei einerseits der „Geist von Rapallo“ beschworen und suggeriert worden, Deutschland orientiere sich nach Russland. Auch seien alte Ängste vor einem zu „starken“ Deutschland aufgetaucht (Kohl 2005: 985). Obwohl er allenthalben betonte, dass es eine Wiedervereinigung nicht ohne Schulterschluss mit den Verbündeten geben werde, habe er auf das Recht der deutschen Selbstbestimmung gesetzt. Niemand, weder im Osten noch im Westen werde ein „Votum aller Deutschen für die Einheit ihres Vaterlandes ignorieren können“ (Kohl 2005: 985).

Obwohl Thatcher und Mitterrand teilweise eine offene Ablehnung hinsichtlich einer deutschen Wiedervereinigung ausgesprochen hätten, habe er in George Bush einen Verbündeten gesehen, der das Verlangen der Deutschen nach der Einheit vorbehaltlos unterstützt habe (Kohl 2009: 112). Das von ihm reklamierte Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung leitet Kohl einerseits aus dem Deutschlandvertrag von 1952 ab, indem sich in Artikel 7 die Staaten Frankreich, Großbritannien und die USA verpflichtet hätten

„[…] mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitliche-demokratische Verfassung ähnlich wie die Bundesrepublik besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist“ (Deutschlandvertrag, 1952 Art. 7, Abs. 2)

Kohl rechtfertigt die Veröffentlichung des Papiers andererseits mit der zunehmenden Diffusion der Debatte in Deutschland. So sei immer deutlichere Kritik an der Bundesregierung geübt worden, da niemand wisse, „wohin die Reise geht“ (Kohl 2009: 109). Allerdings habe auch der amerikanisch-sowjetische Gipfel von Malta angestanden, der für den 2. und 3. Dezember terminiert war, sowie das Treffen der NATO am 4. Dezember in Brüssel. Zudem sollte Mitterrand wenig später Gorbatschow in Moskau treffen, wo die ‚deutsche Frage' ebenfalls auf der Agenda gestanden hätte (Kohl 2005: 988). Um zu verhindern, dass die ‚deutsche Frage' in Foren verhandelt werde, in denen er entweder nicht anwesend war oder keinen entscheidenden Einfluss nehmen konnte, habe er sich für den Offensivschritt entschieden:

„Jetzt war nicht die Stunde der Bedenkenträger, jetzt war die Stunde der Offensive. Es war der Moment, in dem der deutsche Bundeskanzler sich die Initiative in Richtung deutsche Einheit nicht mehr aus der Hand nehmen lassen durfte.“ (Kohl 2009: 121)

Das 10 Punkte Programm wurde nach Angaben von Horst Teltschik am Abend des 23. November 1989 in einer kleinen Runde im Kanzlerbungalow in Bonn ersonnen. Teltschik habe vorgeschlagen, der Bundeskanzler müsse sich, angesichts der auch international steigenden Intensität der Debatte über eine mögliche deutsche Einheit, an die Spitze der Bewegung setzen und hierfür einen gangbaren und realistischen Weg aufzeigen, der in eine gesamteuropäische Friedensordnung eingebettet sei (Teltschik 1996: 49)[1]. Der Redenschreiber Michael Mertes bestätigt Teltschiks Darstellung, so sei es darum gegangen, Modrows Vorschlag einer ‚Vertragsgemeinschaft'[2] nicht nur aufzugreifen, sondern durch ein eigenes Konzept zu überbieten, um somit die „deutschlandpolitisches Meinungsführerschaft“ wieder zu erlangen (Mertes 2001: 9). Teltschik habe die Gefahr gesehen, dass sonst die FDP oder die Opposition die Gelegenheit nutzen könnten, um in der Frage der deutschen Einheit innenpolitische Vorteile zu erzielen. Kohl habe zunächst zurückhaltend reagiert, insbesondere auf den Vorschlag, die Idee eine ‚Konföderation' in das Programm aufzunehmen habe er zurückgewiesen, da eine ‚Konföderation' bereits von Walter Ulbricht in den 1950er Jahren vorgeschlagen wurde. Ohnehin müsse deutlich werden, dass eine

‚Konföderation' lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung sein könne. Norbert Prill habe daraufhin vorgeschlagen, doch von „konföderativen Strukturen“ zu sprechen, um einerseits eine sprachliche Nähe zu Ulbrichts Wortwahl zu vermeiden und die „Offenheit des staatsrechtlichen Prozesses“ zu unterstreichen (Mertes 2001: 10). Kohl habe hinsichtlich dieser Überlegung weder Zustimmung noch Ablehnung signalisiert, sondern Teltschik, Prill und Mertes gebeten, diesen Punkt noch einmal aufzugreifen (Mertes 2001: 10). Kohl schreibt hierzu:

„Konnten wir dem Modrow-Vorstoß die weitergehende Idee einer Konföderation entgegensetzen? Von sowjetischer Seite hatte es einige Tage zuvor Signale gegeben, dass Moskau sich dem nicht widersetzen würde. Mich störte jedoch, dass dadurch die Zweitstaatlichkeit festgeschrieben worden wäre, denn eine Konföderation ist ein Zusammenschluss souveräner, unabhängiger Staaten. Mir ging es aber um eine Föderation, also um die staatliche Einheit Deutschlands“ (Kohl 2009: 114)

Trotz einiger Bedenken aus dem Bundeskanzleramt, die insbesondere von dessen Leiter Rudolf Seiters und seinem Mitarbeiter Claus-Jürgen Duisberg geäußert wurden, habe man sich darauf verständigt, zumindest einen Plan auszuarbeiten und schließlich Kohl die Entscheidung zu überlassen (Teltschik 1996: 50). Michael Mertes beschreibt schließlich das „harte Ringen“ zwischen den engsten politischen Beratern Helmut Kohls, um das Herzstück des 10 Punkte Plans: der Dreischritt von der „Vertragsgemeinschaft“ über die „konföderativen Strukturen“ zur deutschen Einheit. Teltschik habe jedoch darauf bestanden, dass das Konzept der konföderativen Strukturen unter „Ausklammerung der außen- und sicherheitspolitischen Dimensionen“ formuliert werden müsse (Mertes 2001: 12).

Sowohl Teltschik als auch Mertes beschreiben, wie das Beraterteam aus der Analyse des innen- und außenpolitischen Umfeldes einzelne Ideen durchspielte und schließlich den Stufenplan zur Schaffung föderaler Strukturen bis hin zur Einheit im Rahmen einer internationalen Einbettung entwickelte, dabei jedoch bewusst auf die Erstellung eines Zeitplans verzichtete. Am Samstag, den 25. November 1989, sei der Entwurf dem Bundeskanzler zugeleitet worden, der die Rede intensiv durchgearbeitet, aber laut Teltschik in der Substanz nicht verändert habe. Michael Mertes widerspricht dieser Darstellung Teltschiks. So habe Kohl den Text in Absprache mit dem Hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann und dem Staatsrechtler Rupert Scholz überarbeitet und an wesentlichen Stellen den „Duktus des Entwurfs“ zwar nicht verändert, doch die „Durchschlagskraft der Rede“ entscheidend erhöht (Mertes 2001: 13)[3].

So wollte Kohl den Begriff der „deutschen Einheit“, der eigentlich erst in Punkt 10 zur Sprache kam, bereits unter Punkt 5 thematisieren, um, so die Vermutung Mertes, keinen Zweifel an der provisorischen Lösung konföderaler Strukturen aufkommen zu lassen. Außerdem habe Kohl die Begriffe „wiedervereinigt“ und „Wiedervereinigung“ verwendet, was damals ein psychologischer Schritt nach vorne gewesen sei, denn der Kanzler habe in seiner bisherigen deutschlandpolitischen Rhetorik von der „Einheit der Nation“ oder von der „gemeinsamen Freiheit aller Deutschen“ gesprochen. Michael Mertes erklärt, dass Kohl durch Ruckgriff auf den Begriff der Wiedervereinigung eigentlich ‚verpöntes Vokabular' der sozial-liberalen Ostpolitik aktualisierte, damit jedoch unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht habe, dass er auf Erreichung des Maximalzieles setzte: die staatliche Einheit Deutschlands (Mertes 2001: 14). Die von Michael Mertes erwähnte Entstehung der 10 Punkte Rede ist vor dem Hintergrund des hier zugrundeliegenden analytischen Ansatzes nicht uninteressant, da auf plastische Weise beschrieben wird, wie die Artikulation eines Deutungsanspruches praktisch vorbereitet wird.

Schließlich ist die Frage zu klären gewesen, wann und wie die Presse sowie die Vertreter der Vier-Mächte und die EG-Partner informiert werden sollten. Entscheidend sei nach Teltschiks Darstellung gewesen, dass vor der Rede Kohls im deutschen Bundestag nichts nach außen dringe, was den Überraschungseffekt hätte beeinträchtigen können. Der Bundeskanzler habe entschieden, dass die Spitzen der Fraktionen den Redetext erst mit Beginn der Rede erhalten, U.S.Präsident Bush – aufgrund der Zeitverschiebung – der Wortlaut jedoch bereits am frühen Morgen des 28. November zugeleitet werden sollte. Alle anderen seien über die Botschaften zu informieren (Teltschik 1996: 54). Kohl habe den Entwurf des 10 Punkte Papiers am Dienstag, den 28. November über den sogenannten ‚Skipper', eine verschlüsselte Telexverbindung, nach Washington verschickt. Dies geht auch aus den Akten des Bundeskanzleramts hervor (DzD 1989/90, Nr. 101: 567).

Hintergrund war ein Gespräch zwischen dem U.S.-Präsidenten und dem Bundeskanzler vom 17. November 1989. Bush forderte Kohl dazu auf, er möge ihm seine Ansichten übermitteln, bevor er mit Gorbatschow in Malta zusammentreffen werde. Kohl erklärte gegenüber Bush, dass er ihn in der zweiten Hälfte der kommenden Woche (also um den 23./24. November, AH) ausführlich informieren werde. Außerdem wurde ein Telefonat für Montag, den 27. November vereinbart, das jedoch an diesem Tag nicht stattgefunden hat (DzD 1989/90, Nr. 93: 540). Kohl und Bush telefonierten erst am Mittwoch, den 29. November miteinander, also nachdem Kohl seine Rede vor dem Bundestag gehalten und das 10 Punkte Programm verkündet hatte. Allerdings übermittelte Kohl das gewünschte Memorandum mit dem ausformulierten 10 Punkte Plan am 28. November – zwar wenige Tage später als angekündigt, aber noch bevor die anderen Alliierten informiert wurden. In diesem Memo bat er Bush darum, auf dem Gipfel in Malta die in seinen 10 Punkten zum Ausdruck kommende Politik gegenüber Gorbatschow zu unterstützen (DzD 1989/90, Nr. 101: 573). Bevor auf die Reaktionen der Bündnispartner auf das 10 Punkte Papier eingegangen wird, soll die machtpolitische Bedeutung dieser Artikulation unter Anwendung der Heuristik herausgearbeitet werden.

In einem Interview, das Alexander von Plato mit Horst Teltschik führte, wurde die Frage problematisiert, weshalb die Bundesregierung die Alliierten nicht vorher informierte. Teltschik argumentiert, die Bundesregierung habe dafür gesorgt, dass der U.S.-Präsident die Rede erhalten habe, bevor sie gehalten wurde. Allerdings habe er sie erst nachher gelesen. Washington sei jedoch der einzige Verbündete gewesen, der vorab informiert worden sei:

“Teltschik: […] Es gibt immer einen Partner, der wissen soll, was wir tun. Gerade in dieser Frage war es das Weiße Haus. Das Weiße Haus war immer von uns im Detail informiert, weil wir verhindern wollten, dass da irgendein Misstrauen hochkommt“ (von Plato 2002: 122)

Teltschik rechtfertigt dieses Vorgehen mit zwei Argumenten. Einerseits habe die Gefahr bestanden, wonach das 10 Punkte Programm zerredet worden wäre, hätten London und Paris den Entwurf früher zu Gesicht bekommen. Andererseits hätte wohl auch kein anderer NATO-Verbündeter die Bundesregierung über solch einen Schritt informiert, da die deutsche Einheit zunächst eine nationale Angelegenheit Deutschlands gewesen sei (von Plato 2002: 122; Teltschik 1996: 61):

“Teltschik: Wir haben Mitterrand, Thatcher und Gorbatschow nicht informiert […].Wir hätten nur Bedenken gehört. Da bin ich mir sicher. Jetzt stellen Sie sich mal vor, das […] wäre die Reaktion der vier Mächte gewesen am Montag. Und Kohl hätte dann gesagt: ‚Das mag ja alles so sein, ich setze mich darüber hinweg und halte trotzdem die Rede'. Es wäre ein noch größerer Affront gewesen. Dann ein zweites Argument. Kein Partner würde in einer vergleichbaren Situation je einen anderen ausländischen Partner um Erlaubnis fragen, ob er in einer zentralen nationalen Frage handeln darf oder nicht?

AvP: Zwischen Erlaubnis und Information wären ja noch Unterschiede.

Teltschik: Ein französischer Präsident würde da nüchtern entscheiden und sagen, das merken

die schon“ (von Plato 2002: 122)

Insofern gibt Teltschik unumwunden zu, dass die Veröffentlichung des 10 Punkte Programms auch ein Zeichen nationaler Selbstbehauptung der Bundesregierung gegenüber den westlichen Verbündeten war, gleichzeitig jedoch die Vormachtstellung der USA anerkannt wurde.

Zunächst ist auf die Herstellung der Statusasymmetrie einzugehen. Hier wird deutlich, wie durch die Informationsstrategie der Bundesregierung einerseits eine Statusasymmetrie zu den USA hergestellt wird, indem Bush die Rede vor den anderen Alliierten direkt zugeleitet wurde. Auch wenn die U.S.Regierung in die Pläne selbst nicht eingeweiht war, lässt sich aus diesem Vorgang eine freiwillige Anerkennung der U.S.-amerikanischen Führungsposition ableiten. Schließlich hatte Bush darum gebeten, Kohl möge ihm seine Ansichten schildern, bevor er Gorbatschow in Malta treffe. In das Hegemoniekonzept von John Ikenberry übersetzt, wäre die Artikulation des 10 Punkte Programms eine idealtypische Situation, die zeigt, wie durch Gewährung und Nutzung von voice opportunities die Statusasymmetrie zwischen den Akteuren aktualisiert und eine liberale Hegemonialordnung in der sozialen Praxis hergestellt wurde. Die Veröffentlichung des 10 Punkte Programms könnte sozusagen auch als ein praktischer Vollzug dessen angesehen werden, was in der abstrakten Formulierung „partners in leadership“ mitschwingt, auch wenn dies von der US-Administration möglicherweise so nicht unbedingt intendiert war. Während die sich hier abzeichnende

‚Sonderbeziehung' zwischen Bonn und Washington von einer eindeutigen Anerkennung der Statusasymmetrie geprägt ist, drückt sich durch die Rechtfertigung Teltschiks gleichzeitig ein Anspruch auf Statusäquivalenz gegenüber den anderen Bündnispartnern und der Regierung in Moskau aus.

Teltschiks Argumentation für die Nicht-Information der Bündnispartner ähnelt einer sozialen Praxis, die auch im Streit über die LANCE-Raketen beobachtet werden konnte, als Washington über Thatchers Kopf hinweg das Prinzip der

‚Nicht-Verhandelbarkeit' als NATO-Position aufgab. Ähnlich wie Scowcroft (“it would have been very awkward to proceed over their strong objections”) argumentiert nun auch Teltschik, wonach es ein „noch größerer Affront“ gewesen wäre, wenn Kohl sich über die Einwände der Alliierten hinweggesetzt und die Rede zum 10 Punkte Programm dennoch gehalten hätte. Auch das zweite Argument, das Teltschik zur Rechtfertigung des Handelns der Bundesregierung anführt, verweist unmittelbar auf eine Statusfrage: „ Kein Partner würde in einer vergleichbaren Situation je einen anderen ausländischen Partner um Erlaubnis fragen.“ Teltschiks Aussagen zufolge sei durch die Artikulation des 10 Punkte Programms auch ein grundsätzliches Selbstbestimmungsrecht reklamiert worden, das den anderen Bündnispartnern in ähnlichen Fragen auch eingeräumt worden wäre. Die Veröffentlichung des 10 Punkte Programms könnte entsprechend auch als ein Versuch interpretiert werden, die politisch-formelle Statusasymmetrie gegenüber den Bündnispartnern weiter zu verringern, durch die der Anspruch auf eine Statusäquivalenz gegenüber den europäischen Bündnispartnern und der Regierung in Moskau zum Ausdruck gebracht wurde. Auch in Kohls eigener Rechtfertigung, wonach dies nicht der „Moment“ gewesen sei, „in dem der deutsche Bundeskanzler sich die Initiative in Richtung deutsche Einheit […] aus der Hand nehmen lassen durfte“, steckt der Verweis auf ein statusbasiertes Recht der

‚Selbstbestimmung', der ‚Ermächtigung' und der ‚Notwendigkeit', in der ‚deutschen Frage' aktiv zu werden.

Eng verzahnt mit den Statusfragen ist auch der Deutungsanspruch, der dem 10 Punkte Programm eingeschrieben wurde. Das ‚Selbstbestimmungsrecht', das Kohl unter Berufung auf die einschlägigen NATO-Dokumente sowie den Deutschlandvertrag für das deutsche Volk bereits im Vorfeld immer wieder reklamierte, wurde in Punkt 10 des Programms explizit eingefordert. Die „Wiedervereinigung Deutschlands“ zu einer Frage der „nationalen Selbstbestimmung“ zu erklären, ist eine machtpolitisch hoch bedeutsame diskursive Verknüpfung, da hierdurch Mitspracherechte der Alliierten sowie der Regierung in Moskau zurückgewiesen werden. In den 10 Punkten wird zwar erwähnt, dass ein wiedervereinigtes Deutschland in die europäischen Strukturen eingebettet sein müsse und auch die kursorischen Ausführungen zur KSZE sowie der Rüstungskontrolle deuten auf die ‚multilaterale Rahmung' des Prozesses hin. Der inhaltliche Kern der 10 Punkte, also die Schaffung konföderativer Strukturen sowie der Vollzug der Einheit als finaler Schritt, werden jedoch zu einer unilateralen Angelegenheit erklärt. Die Einbettung des neu geschaffenen Staates in den internationalen Kontext soll dagegen auf einer multilateralen Ebene stattfinden. Insofern könnte aus dem 10 Punkte Programm ein Deutungsanspruch abgeleitet werden, der sich in der Formel ‚unilateraler Vollzug' + ‚multilaterale Einbettung' verdichtet. Die deutsche Einheit wäre nach dem 10 Punkte Programm somit ein Prozess, der auf zwei Ebenen vollzogen werden sollte, die sich zwar wechselseitig bedingen, aber dennoch unabhängig voneinander bestehen. Die Metapher, wonach eine deutsche Einheit und die internationale Einbettung Deutschlands ‚zwei Seiten einer Medaille' seien, wurde in diesem Kontext immer wieder gebraucht.

Andreas Rödder verweist auf den wichtigen Aspekt, wonach die Behauptung einer ‚deutschen Selbstbestimmung' in der ‚deutschen Frage' eine lange Tradition gehabt habe und mitnichten im 10 Punkte Programm zum ersten Mal offiziell verkündet wurde (Rödder 2009: 141). Die ‚Selbstbestimmung' gehörte vielmehr zum allgemein akzeptierten Sprachgebrauch während der Zeit des Kalten Krieges. So verwendete Kohl bereits in einer Regierungserklärung aus dem Jahre 1984 den Satz:

“Der nationale Auftrag bleibt gültig und erfüllbar: in einem vereinten Europa in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden” (Regierungserklärung von Helmut Kohl 1983, 15. März 1984)

Dieser Satz verhallte zwar nicht ohne Wirkung, denn, wie in der kurzen Medienanalyse gezeigt, wurde angesichts des geplanten Honecker Besuches in Westdeutschland über die ‚deutsche Frage' und die Möglichkeit einer Wiedervereinigung seinerzeit auch in internationalen Medien berichtet. Auch in einer Tischrede im Jahre 1987, als Honecker schließlich doch noch in die Bundesrepublik reiste, nutzte Kohl die Gelegenheit, um von der deutschen Selbstbestimmung zu sprechen:

„Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, dass dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht“ (Kohl 1987)

Rödder behauptet, dass der Verweis auf ‚Selbstbestimmung' zwar auf rhetorischer Ebene kommuniziert und bestätigt wurde, seit den sechziger Jahren jedoch

„fernab der politischen Praxis“ geblieben sei, da andere Realitäten und machtpolitische Interessen geherrscht haben (Rödder 2009: 141).

Entscheidend ist jedoch die veränderte politische Bedeutung, die der Begriff der ‚Selbstbestimmung' in diesen Jahren erfahren hat. Der Verweis auf die ‚Selbstbestimmung' war auch im Jahre 1984 oder 1987 eine soziale Praxis, hatte jedoch eine andere Bedeutung als im Jahr 1989. Während die deutsche Einheit 1984 und 1987 zwar unter sehr speziellen Umständen möglich, aber sicher nicht als politische Realität vorstellbar gewesen wäre, erschien wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer eine deutsche Einheit plötzlich als eine mögliche politische Realität. Unter diesen neuen politischen Umständen konnte Kohl im 10 Punkten auf die Kontinuität deutscher Außenpolitik verweisen, wonach bereits seit Jahren das ‚Recht auf Selbstbestimmung' hinsichtlich der deutschen Einheit reklamiert wurde – ohne dass dieser Anspruch jemals hinterfragt worden wäre. Schließlich habe Thatcher gegenüber Kohl offen zugegeben, dass diese Beschlüsse aus einer Zeit stammten, in der man gedacht habe, dass die Wiedervereinigung niemals stattfinden würde (Kohl 2009: 110).

Die innenpolitischen Reaktionen auf Kohls Rede sind zunächst positiv ausgefallen, so habe etwa die SPD ihre Kooperation bei der Umsetzung des Programms angeboten. Wenige Tage später seien führende Oppositionspolitiker jedoch auf Distanz gegangen, möglicherweise auch, da Kohls Programm international auf heftige Kritik gestoßen war. Kiessler/Elbe schreiben, dass die meisten der 10 Punkte eigentlich keinen Anstoß erregen konnten, denn sie enthielten lediglich die Zusammenfassung dessen, was bereits in den Wochen davor diskutiert wurde, wie etwa die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der DDR hinsichtlich der Regelung des Reiseverkehrs (Kiessler/Elbe 1993: 50). Ebenso klar sei Kohls Haltung hinsichtlich der Einbettung eines vereinten Deutschlands in die internationalen Strukturen der KSZE und der EG gewesen. Inhaltlich problematisch erschien indessen der Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft mit dem Ziel, eine Föderation zu schaffen, in der die beiden deutschen Staaten wiedervereinigt aufgehen sollten (Kiessler/Elbe 1993: 50). Zudem enthielt das 10 Punkte Programm keine Aussage hinsichtlich der Oder-NeißeGrenze sowie der Bündniszugehörigkeit, was ebenfalls kritisiert wurde.

  • [1] Teltschik berichtet von einem Gespräch, das er am 21. November 1989 mit Nikolai Portugalow, einem Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU und Mitarbeiters Valentin Falins, des Leiters der Abteilung für internationale Beziehungen des Zentralkomitees. Portugalow habe ihm ein zweiteiliges Papier gezeigt, das im ersten Teil offizielle Einschätzungen bezüglich der Lage in der DDR enthalten habe, die mit Gorbatschow abgestimmt gewesen seien. Den zweiten Teil des Papiers habe er dagegen lediglich mit Falin abgesprochen. Darin sei es um Fragen einer Wiedervereinigung, einen Beitritt der DDR zur EG sowie um die Allianzugehörigkeit gegangen. „Wie Sie sehen, denken wir in der deutschen Frage alternativ über alles mögliche, sogar quasi Undenkbares nach“ habe ihm Portugalow gesagt (Teltschik 1996: 44).
  • [2] Hans Modrow hatte in einer Rede am 17. November 1989 den Begriff ‚Vertragsgemeinschaft' verwendet, um die ‚kooperative Koexistenz' beider deutscher Staaten auf eine Formel zu bringen. Modrow hatte damit den Versuch unternommen, die deutsche Einheit zu verhindern, lieferte damit jedoch unwillkürlich eine rhetorische Steilvorlage für Kohls 10 Punkte Programm (Rödder 2009: 137).
  • [3] Nach Kohls Darstellung habe er sich mit Scholz, den Brüdern Erich und Fritz Ramstetter sowie seiner Frau Hanelore beraten, die den Entwurf abgetippt habe. Walter Wallmann findet hierbei keine Erwähnung (Kohl 2009: 115)
 
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