Unterstützung aus Washington

In Washington habe Kohl durch seine Rede zwar Überraschung ausgelöst, dennoch konnte man gelassen reagieren, wie Baker schreibt. Etwa eine Woche bevor Kohl seine Rede hielt, war Hans-Dietrich Genscher in die U.S.-Hauptstadt gereist, als Auftakt einer Reisetour in die Hauptstädte der vier Siegermächte (Baker 1995: 167). Genscher traf sowohl mit dem U.S.-Präsidenten als auch mit Brent Scowcroft und seinem Amtskollegen Jim Baker zusammen, um prospektiv über die Möglichkeit einer deutschen Einheit zu sprechen. Bei der Darstellung seiner Reise bezieht Genscher immer wieder die atmosphärischen Unterschiede zu seinem Besuch im April des Jahres 1989 ein. So sei er dieses Mal mit großer Herzlichkeit und aufrichtiger Sympathie empfangen worden. Das Thema SNF spielte bei seinem Besuch lediglich am Rande eine Rolle, da in U.S.-Medien Berichte aufgetaucht seien, wonach sich die Bundesregierung nicht an die getroffenen Vereinbarungen halten wolle. Genscher wies darauf hin, dass diese Frage im Jahre 1992 zu erörtern sei, dass aber niemand im November 1989 davon ausgehen könne, dass man in drei Jahren eine Entscheidung für die Stationierung zu treffen hätte (Genscher 1995: 665). Hinsichtlich der deutschen Frage wiederholte Genscher die Grundforderung der Bundesregierung, wonach das

‚Selbstbestimmungsrecht' der Deutschen nicht isoliert durchgesetzt werden solle, schließlich stünde man loyal zu den Verpflichtungen des Bündnisses (Genscher 1995: 665). Bush habe signalisiert, dass die USA das Anliegen der Deutschen nach ‚Selbstbestimmung, Einheit, Frieden und Freiheit' unterstützen werden (Genscher 1995: 664). Bush berichtet in seinen Memoiren ebenfalls von seiner Unterredung mit Genscher. Demnach habe Genscher ihm versichert:

“[Genscher:] It is important for all to know that we will stick to our obligations in NATO and the EC. We do not want a special course for Germany, but we do not want self-determination everywhere except in Germany. But all of this must be done in a way that does not alarm the Soviet Union. That is why we must stick to our current borders. That is a condition of the building of a stable structure in Europe” (Bush/Scowcroft 1998: 192)

Genscher berichtet weiter, er habe seine Sicht der Dinge auch gegenüber Scowcroft dargelegt. Scowcroft habe nachgefragt, was man unter dem ‚Selbstbestimmungsrecht' verstehe, ob damit ein Friedensvertrag gemeint sei, was Genscher ablehnte. Auch eine Viermächte-Konferenz sei keine geeignete Lösung, um über die deutsche Frage zu verhandeln, eine „Katzentischlösung“ dürfe es kein weiteres Mal geben: alle 6 Parteien müssten an einem Tisch sitzen (Genscher 1995: 667). Mit Baker habe er sich in selbigem Raum getroffen, in dem die U.S.Delegation ihm und seinem Kollegen Stoltenberg den „distanzierten“ und „fros-

tigen“ Empfang bereitet hatte. Der Streit über die SNF sei jedoch fast vergessen, habe jedoch, bemerkt Genscher, wie ein „reinigendes Gewitter“ gewirkt (Genscher 1995: 668).

Brent Scowcroft begründet den Stimmungsumschwung der U.S.-Regierung in seinen Memoiren. Demzufolge habe die U.S.-Regierung bereits seit einigen Wochen über die Möglichkeit einer Wiedervereinigung nachgedacht. Wichtig sei dabei vor allem gewesen, dass Deutschland in der NATO verbleibe. Nicht nur, um hierdurch die Sorgen der Nachbarstaaten zu mildern, sondern auch aus rein strategischen Interessen der USA. Schließlich sei Deutschland das geopolitische Zentrum der Allianz sowie deren zweitgrößte Volkswirtschaft und Militärmacht:

„[Scowcroft:] A Germany outside NATO would 'gut' the alliance. Its membership was also important to the United States for practical reasons. Without Germany and our bases there, our military presence in NATO, and in Europe, would be difficult if not impossible to maintain” (Bush/Scowcroft 1998: 197)

Diese klare militärstrategische Aussage erscheint notwendig, um die nahezu vorbehaltlose Unterstützung der deutschen Einheit durch die U.S.-Regierung zu verstehen und auch, weshalb Bush den Bundeskanzler und dessen 10 Punkte Programm vor Kritikern innerhalb der Allianz sowie aus Moskau in Schutz nahm

– obwohl die 10 Punkte, wie oftmals behauptet wurde, nicht mit Washington abgesprochen waren, was durchaus als Statusmissachtung aufgefasst wurde.

In der Washington Post wird die unmittelbare Reaktion von Margaret Tutwiler, die Pressesprecherin des State Departments, auf einer Pressekonferenz folgendermaßen wiedergegeben:

“[I]t would be going too far 'to say the United States endorsed Kohl's plan because U.S. officials have not had an opportunity to study it'. She did say, however, that Kohl 'is responding to the deepest aspirations of his people for German unity. […] This is a goal that we and [West Germany] have long shared', she said. 'It should be no cause for concern that the chancellor has laid out his vision for the future of Germany. […] The chancellor has set forth a step-bystep process with no specific timetable for unification, which would come only after other difficult questions such as the security of Europe have been addressed'” (Washington Post, 29. November 1989)

George Bush äußert sich in seinen Memoiren zu Kohls Rede, die ihn zwar überrascht, aber nicht beunruhigt habe – Kohl wäre schließlich nicht in der Lage gewesen, die Einheit alleine durchzuführen und hätte wohl auch kein Interesse daran gehabt, seinen engsten Verbündeten zu verlieren: „I was certain he would consult us before going further – he needed us” (Bush/Scowcroft 1998: 194).

Brent Scowcroft zeigt sich in seinen Erinnerungen an die Veröffentlichung des 10 Punkte Programms deutlich besorgter als der U.S.-Präsident:

“[Scowcroft:] If Kohl was prepared to go off on his own whenever he worried that we might object, we had very little influence. Suppose for example, it came to the point that he decided he could get unification only by trading it for neutrality? We were a long way from anything like that, but Kohl's unilateral move did not, for me, necessarily bode well for the future” (Bush/Scowcroft 1998: 195)

Er habe den Eindruck gehabt, Washington hätte im Vorfeld eng mit der Regierung in Bonn zusammengearbeitet und deren Vertrauen verdient. Doch seien bei ihm nach Kohls Rede Zweifel aufgekommen.

Bush berichtet, er habe am Morgen nach der Rede, also am 29. November 1989, mit Kohl telefoniert, der ihn über die aktuellen Prozesse in der DDR informierte. So seien die Menschen etwa über das Ausmaß an Korruption in der DDR erschüttert, das in jenen Tagen aufgedeckt wurde. Die Dinge in der DDR seien grundlegend in Veränderung, berichtete Kohl, daher sei es wichtig, den Reformprozess fortzuführen. Der Prozess hätte mittlerweile ein Stadium erreicht, indem er unumkehrbar sei, denn die DDR könne einen Massenexodus nicht verhindern, sollten die Reformen nicht fortgeführt werden. Kohl habe ihm vertraulich mitgeteilt, dass er für das Jahr 1990 oder 1991 freie Wahlen in der DDR erwarte (Bush/Scowcroft 1998: 195). Schließlich habe Kohl ihm das 10 Punkte Programm erklärt:

“[Kohl:] First, we must act with reason and caution. Everything in Central Europe and Germany will have enormous impact. For me personally, this means everything I do will be coordinated with our American friends. The second point is the will of the [East German] people, what they desire. […] It will become clear after the elections. […] If there are genuine elections, they will throw out all in the government. Third, it will be a long-term process. They [the GDR] will remain in the Pact, and we in NATO. The security dimensions are of great importance” (Bush/Scowcroft 1998: 195)

So habe Kohl versucht, zu zeigen, dass er sich seiner Verantwortung bewusst sei und er sich auch darum bemühe, die europäischen Partner auf dem bevorstehenden EG-Gipfel in Straßburg über das weitere Vorgehen zu konsultieren. Es sei schließlich ein ‚ehernes Gesetz' („iron law“), dass es in der deutschen Außenpolitik keine Alleingänge gäbe (Bush/Scowcroft 1998: 195).

Scowcroft schreibt, er habe sich bezüglich Kohls Äußerungen über zwei Dinge gewundert. Einerseits über dessen Beteuerungen, wonach es keine Alleingänge der Bundesregierung geben werde, obwohl Kohl nur einen Tag zuvor genau jenen Alleingang unternommen hatte. Retrospektiv gesehen sei Kohl da-

mals offenbar noch davon ausgegangen, dass der Einigungsprozess mehrere Jahre dauern werde, weshalb er auch angenommen habe, dass die Bundesrepublik in der NATO und die DDR im Warschauer Pakt bleibe. So sei auch Kohl damals noch nicht bewusst gewesen, wie weit sich der Prozess eigentlich schon entwickelt hatte (Bush/Scowcroft 1998: 196).

Bush verweigerte auf einer Pressekonferenz am 27. November 1989 bezüglich des 10 Punkte Plans zunächst noch jeglichen Kommentar, da er den Inhalt des Papiers nicht kannte, drückte nach dem Telefonat mit Kohl in einem Pressegespräch am 29. November 1989 dann jedoch seine grundsätzliche Zustimmung aus:

“I just had a long telephone conversation with [West German Chancellor] Helmut Kohl – very interesting. And I feel comfortable; I think we're on track“(Bush 1989c)

Inhaltlich stellte sich Bush somit demonstrativ hinter Kohl und dessen Deutungsanspruch, da er die Bedenken der westlichen Verbündeten und die kritischen Reaktionen aus Moskau kannte. Rice/Zelikow berichten, die U.S.Administration habe sofort begriffen, dass sich Kohl mit den 10 Punkte „weit aus dem Fenster gelehnt hatte“ (Rice/Zelikow 1998: 178). Um zu verhindern, dass Kohl unter Druck gerate, sollte in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck entstehen, er habe durch sein Handeln eine internationale Krise ausgelöst. Der Nationale Sicherheitsrat sei zu dem Schluss gekommen, Washington müsse stärker in Erscheinung treten, um Kohl und das 10 Punkte Programm vor internationaler Kritik zu schützen (Rice/Zelikow 1998: 178).

Die Administration von George Bush befand sich zu jener Zeit in der Vorbereitung des Gipfeltreffens auf Malta, in dessen Kontext Bush auch die Veröffentlichung des 10 Punkte Programms einordnete. Seiner Meinung nach habe Kohl versucht zu verhindern, dass die USA und die Sowjetunion nicht ein weiteres Mal über das Schicksal Deutschlands entscheiden, wie dies Stalin und Roosevelt nach dem Zweiten Weltkrieg getan hatten (Bush/Scowcroft 1998: 1994).

‚Malta' sollte nicht zu einem ‚Yalta II' werden, bestätigt auch Baker auf einer Pressekonferenz am 30. November 1989. Als er schließlich direkt nach der deutschen Einheit gefragt wurde, habe er vier Punkte vorgeschlagen:

“One, self-determination must be pursued without prejudice to its outcome. We should not at this time endorse or exclude any particular vision of unity. Two, unifications should occur in the context of Germany's continued commitment to NATO and an increasingly integrated EC, and with due regard for the legal role and responsibilities of the allied powers. Three, unification should be gradual, peaceful, and part of a step-by-step process. And, four, the inviolability of borders must be respected as stated in the Helsinki Final Act […]. This is my view” (Baker

1995: 168)

In Bakers 4 Punkte Plan zur deutschen Einheit wird zwar das Recht auf ‚Selbstbestimmung' betont, jedoch auch der eindeutige Erhalt Deutschlands innerhalb der NATO gefordert, sollte es zu einer Wiedervereinigung kommen: ‚Es sollte keinen Handel Neutralität für Einheit geben'. Außerdem nimmt der U.S.amerikanische 4 Punkte Plan explizit Bezug auf die Helsinki Schlussakte, in der die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa anerkannt und die Veränderung dieser Grenzen nur mit friedlichen Mitteln erlaubt wird. Dieser Aspekt taucht in Kohls 10 Punkte Plan lediglich am Rande auf. Baker schreibt, dass sein 4 Punkt Plan zunächst nicht als offizielle Haltung der U.S.-Regierung gedacht war, vielmehr basierten seine Ideen auf einem Memo, das Francis Fukuyama einige Tage zuvor angefertigt habe. Am Tage nach dem Treffen mit Gorbatschow in Malta habe Präsident Bush den 4 Punkte Plan schließlich zur offiziellen U.S.-Politik in der ‚deutschen Frage' erklärt (Baker 1995: 168).

Die Veröffentlichung des 4 Punkte Plans stellt eine soziale Praxis dar, die bislang noch nicht beobachtet werden konnte. So handelt es sich nicht um einen konkurrierenden Deutungsanspruch, der den 10 Punkten offen entgegengesetzt worden wäre. Vielmehr eignete sich die U.S.-Regierung den Deutungsanspruch des Bundeskanzlers an, fügte jedoch an entscheidenden Stellen Ergänzungen hinzu, die als konkurrierende Deutungsansprüche entweder schon offen artikuliert wurden oder mit Sicherheit artikuliert worden wären. Durch die Praxis der Aneignung und Ergänzung des Deutungsanspruches wurde dieser nicht offen zurückgewiesen, sondern eher durch den neuen Deutungsanspruch ersetzt. Die massive Kritik, die Kohl mit der Veröffentlichung des 10 Punkte Plans auf sich zog, richtete sich folglich primär gegen den Artikulationsvorgang an sich und dessen machtpolitische Implikationen. Der Inhalt des Deutungsanspruches, wonach die deutsche Einheit ein Akt der ‚Selbstbestimmung des deutschen Volkes' sei, jedoch international eingebettet sein müsse, wurde durch Bakers 4 Punkte Plan ‚diskursiv gerettet'. Nun war es die U.S.-Regierung, die ‚Selbstbestimmung' und ‚internationale Einbindung' als Möglichkeitsbedingungen einer deutschen Einheit als Deutungsanspruch vertrat und nicht mehr ‚nur' die deutsche Regierung. Der 4 Punkte Plan könnte insofern als eine soziale Praxis verstanden werden, wodurch ein Deutungsanspruch im Diskurs ‚konserviert' wurde, obwohl dessen Artikulation und Inhalt von verschiedenen Seiten als unzulässig zurückgewiesen wurden. Die Fähigkeit jedoch, solch umstrittene Deutungsansprüche zu

‚konservieren', könnte als die Durchsetzung einer hegemonialen Machtposition

der U.S.-Regierung verstanden werden.

Eine der wichtigsten Herausforderungen der U.S.-Regierung bestand nun darin, die westlichen Verbündeten auf dem anstehenden NATO-Gipfel in Brüssel und Gorbatschow in Malta zu beruhigen. Bush berichtet von einem Dinner mit dem kanadischen Premierminister Mulroney, der mit Gorbatschow gesprochen hatte. Mulroney berichtete Bush, Gorbatschow habe sich ihm gegenüber verärgert und besorgt geäußert. Gorbatschow habe gesagt, „die Deutschen könnten die Einheit vergessen“, und außerdem seien schon Leute nach dem Verzehr

„unreifer Früchte“ gestorben (Bush/Scowcroft 1998: 196). In Malta wurde das Thema ‚deutsche Einheit' allerdings nur am Rande erwähnt. Bush warb bei Gorbatschow um Verständnis für die emotionale Situation, aus der heraus Kohl gehandelt habe und sicherte ihm zu, dass die USA nicht zu einer weiteren Beschleunigung des Prozesses beitragen würden (Galkin/Tschernjajew 2011: 251).

Nach dem Gipfel in Malta flog Bush zur NATO nach Brüssel. Am Abend des 3. Dezember 1989 traf er Helmut Kohl in Laeken zu einem ausführlichen Gespräch über die aktuelle politische Lage. Brent Scowcroft, der bei dieser Gelegenheit ebenfalls anwesend war, bezeichnet dieses Treffen als „turning point“ in der deutschen Frage:38

„[Scowcroft:] There seemed a perfect conjunction of the minds on reunification, and the atmosphere of comradeship in a great venture was palpable to me. The easygoing discussion seemed to give Kohl confidence, almost visible to me at the time, that he had the President behind him” (Bush/Scowcroft 1998: 200)

Das Kernproblem sah Bush in der Frage, wie man Gorbatschow entlasten konnte, der angesichts der sich zuspitzenden Lage in der DDR, aber auch im eigenen Land, zunehmend unter Druck geriet. Dabei wies Bush den Bundeskanzler darauf hin, dass Gorbatschow insbesondere bezüglich des von Kohl vorgelegten 10 Punkte Programms erhebliche Vorbehalte hegte:

„Für Gorbatschow sei es beunruhigend, nicht absehen zu können, wo er morgen stehe. […] Gorbatschow sehe nicht, wohin die Dinge bei dieser Geschwindigkeit trieben. Er, Bush, empfinde es als beruhigend, dass die Entwicklung friedlich und gewaltlos sei. Man müsse eine Formel finden, die Gorbatschow nicht in Bedrängnis bringe und den Westen trotzdem zusammenhalte“ (DzD 1989/90, Nr. 109: 603)

Ein weiteres Problem habe Bush darin gesehen, wie die Bündnispartner auf die deutsche Frage reagierten. Daher erkundigte sich der U.S.-Präsident nach Kohls Einschätzungen der Haltung von Mitterrand und Thatcher. Bei Mitterrand sehe er keine Probleme, da das 10 Punkte Programm nicht als Alternative zur europäischen Einigung konzipiert sei. Die europäische Integration sei hingegen geradezu eine Voraussetzung für das 10 Punkte Programm. Anders schätzte er hingegen die Reaktion Thatchers ein, die er als „verhalten“ bezeichnete, was Bush scherzhaft mit der Bemerkung quittierte, dies sei wohl die „Untertreibung des Jahres“ (DzD 1989/90, Nr. 109: 606). Kohl begründete die generellen Vorbehalte in Europa gegenüber einer deutschen Einigung einerseits mit Verweis auf die Geschichte und die aktuelle wirtschaftliche Situation Deutschlands, die einigen Nachbarn Sorge bereite, dabei würden die anderen Länder von der Wirtschaftskraft Deutschlands profitieren. Die andere Befürchtung, die etwa vom italienischen Ministerpräsidenten Andreotti erhoben wurde, wonach Deutschland sich politisch nach ‚Osten', d.h. weg von der EU und der NATO, orientieren könnte, sei hingegen „Unsinn“ (DzD 1989/90, Nr. 109: 603; Bush/Scowcroft 1998: 199). Hinsichtlich der deutschen Einheit zeigte sich der Kanzler zurückhaltend. Kissingers Vorstellung, wonach eine Einheit innerhalb von zwei Jahren möglich erscheine, sei angesichts des wirtschaftlichen Ungleichgewichts abenteuerlich. Grundsätzlich erklärte der Kanzler,

„alles brauche seine Zeit. Deshalb verspüre er keinen Druck. Er brauche eine ruhige Periode der Entwicklung. Man könne nicht wissen, was in 10 Jahren sei. Man dürfe sich nicht unter Druck setzen lassen. Wichtig sei es, dass die Menschen bei uns sehen, was der Bundeskanzler wolle“ (DzD 1989/90, Nr. 109: 604)

Bush bewertet Kohls Zurückhaltung als Strategie, einerseits die Einheit so schnell wie möglich herbeizuführen, aber nichts zu tun oder zu sagen, was dies gefährden könnte. Allerdings habe Kohl ihm den Eindruck vermittelt, dass er sich der Probleme und Vorbehalte bewusst sei, die gegenüber einer deutschen Einheit bestünden, und man sei sich darin einig, dass Gorbatschows Lage nicht weiter verschärft werden dürfe. Folglich habe Bush signalisiert, dass die U.S.Regierung eine Wiedervereinigung nicht entgegenstehen würde:

“[Bush:] I probably conveyed to Kohl that I have no objection to reunification, and in a sense, I gave him a green light. I don't think I ever contemplated cautioning him about going too fast. As I had told Gorbachev, and both Kohl and Genscher, self-determination was the key, and no one could object to it“(Bush/Scowcroft 1998: 199)

Bush stellte seine Rede im Hauptquartier der NATO unter das Thema The Future Shape of the New Europe and the New Atlanticism. Einleitend nahm er Bezug auf seine erste Reise im Mai des Jahres 1989 und auf die Ereignisse in Osteuropa. Insbesondere die durch den 9. November 1989 greifbar gewordene Wiedervereinigung Deutschlands stelle für Bush eine zentrale Herausforderung dar, die es nun überlegt anzugehen gilt. Bush nannte einige grundlegende Prinzipien, die den Einigungsprozess begleiten sollten und bezog sich hierbei unmittelbar auf Bakers 4 Punkte Plan. Vor allem sollte ein vereintes Deutschland sowohl in die Strukturen der NATO als auch der EG integriert werden, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle und Verantwortung der Alliierten. Darüber hinaus sollten alle Staaten Europas Teil eines ‚commonwealth of free nations' werden.

Bush betonte, dass die Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen der multilateralen Bündnisse geregelt werde und Deutschland Mitglied der NATO bleiben müsse. Er greift hier ein Leitmotiv aus seiner Mainzer Rede aus. Insbesondere ein wiedervereinigtes Deutschland muss durch die Einbindung in multilaterale Strukturen kontrolliert werden. Der Begriff des „commonwealth“ ist bemerkenswert, da hierunter ein freiwilliger Bund souveräner Staaten verstanden wird, wobei das Souveränitätsprinzip zentral ist – die zukünftige Gestalt der EU entspräche jedoch nicht unbedingt der eines intergouvernementalen „commonwealth“, sondern eines supranationalen Verbundes. Im weiteren Verlauf der Rede ging Präsident Bush auf die Rolle der NATO und der USA in Europa ein. Hauptaufgabe der NATO in Zukunft werde sein, weiterhin für Stabilität innerhalb Westeuropas zu sorgen und die friedliche Transformation Osteuropas zu unterstützen. Die Aufgabe der NATO bestehe darin, Menschenrechte, Demokratie und Reformen in den osteuropäischen Ländern zu fördern, denn dies sei das beste Mittel, um die Aussöhnung zwischen den ost- und westeuropäischen Staaten anzuregen.

Präsident Bush setzt hier die Definition der NATO-Aufgaben fort, die er in seiner Mainzer Rede schon angedeutet hatte: Förderung von Demokratie, Menschenrechte bis hin zur Unterstützung der Reformbewegungen in den Ländern Osteuropas, um somit einen aktiven Beitrag zur Aussöhnung zu leisten – was die NATO ja bereits in ihrer Vergangenheit getan hat. Indem Präsident Bush der NATO die Fähigkeit zur Aussöhnung und Europa ein zukünftiges Bedürfnis nach Aussöhnung zuschreibt, artikuliert er die notwendige Legitimationsgrundlage des Bündnisses auch unter neuen politischen Rahmenbedingungen, die sich damals ja schon mehr als deutlich abzeichneten. Somit verteidigte Bush den Fortbestand der NATO gegenüber Kritikern, die bereits seit längerer Zeit ihre Abschaffung verlangten. Bush erteilt allen möglichen Forderungen nach einem Rückzug der U.S.-Truppen aus Europa eine deutliche Absage. Die Sicherheitslage lasse einen Abzug der Truppen aus seiner Sicht nicht zu, allerdings legt er die Entscheidung hierüber – zumindest rhetorisch – in die Hände der Europäer. Hiermit knüpft Bush an Zuschreibungen an, die er bereits in früheren Reden entwickelt hatte, wonach die Bedrohung für Europa (und somit auch für die USA) nach wie vor existent sei und die Anwesenheit der USA für Frieden und Stabilität unerlässlich.

Auf der anschließenden Pressekonferenz, die George Bush anlässlich seines Besuches abgehalten hatte, wurde er noch einmal direkt zu den zentralen Themen seiner Rede befragt. Die Fragen der Journalisten bezogen sich insbesondere auf die U.S.-amerikanische Rolle in Europa, die deutsche Wiedervereinigung, das Verhältnis zur UdSSR und auf die Beziehungen zwischen den USA und der EG. Bereits die erste Frage eines U.S.-amerikanischen Journalisten erscheint in diesem Zusammenhang bedeutsam, da sie den Verbleib der U.S.-Truppen in Europa und die damit verbundenen Kosten zu wirtschaftlichen Problemen in den USA in Beziehung setzt. Präsident Bush wiederholte noch einmal seine grundsätzliche Haltung, wonach die USA eine europäische Macht bleiben werden, bezog jedoch unmittelbar Stellung zu seinen Kritikern in den USA, die einen raschen Abzug der Truppen forderten. Bush halte die Rufe nach der sogenannten Friedensdividende, die nun eingefahren werden sollte, für verfrüht. Er sehe keinerlei Grund, weshalb die USA ihr Engagement in Europa reduzieren sollten und erkenne auch nicht, dass diese Forderung von den Europäern gestellt werde.

Im weiteren Verlauf der Pressekonferenz wird dieser Punkt noch einmal aufgegriffen, der Journalist erhält jedoch nur eine ausweichende Antwort und spitzt seine Frage daher weiter zu.

“Q: Sir, maybe I misstated my question. What I really mean is: Why do West Europeans need us once the military threat recedes? The West Europeans? Why would there have to be a NATO? This is a political and military alliance, and truly a political alliance because of the military need.

The President: You mean why will there always have to be a U.S. presence?

Q: Why will there always have to be a NATO?” (Bush 1989d)

Präsident Bush verweist in seiner Antwort auf diese Frage, dass niemand wisse, was in 100 Jahren sei, es jedoch einen utopischen Tag geben mag, an dem die NATO nicht mehr existiere. Dieser Tag sei jedoch nicht gekommen und dies würden auch die europäischen Partner so sehen, daher müssten die Truppen in Europa bleiben. Bush betont jedoch auch, dass gerade in dieser sensiblen Phase

des Umbruchs keinesfalls das Signal der Entkopplung („decoupling“) aus den USA an die Europäer gesendet werden dürfe. Bush sieht die USA demnach als ein Empire by Invitation, das den Europäern gegenüber in der Pflicht sei, gerade in einer Zeit des Umbruchs und neuer Unsicherheiten präsent zu bleiben.

Auf dem NATO Gipfel verkündete Bush schließlich auf offiziell seine Unterstützung der deutschen Einheit, legte durch das von Baker bereits kommunizierte 4 Punkte Programm jedoch einen eigenen Fahrplan vor, der die 10 Punkte Kohls zwar inhaltlich unterstützt, die Deutungs- und Gestaltungsmacht in der deutschen Frage jedoch (wieder) nach Washington verlagerte.

 
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