Macht als soziale Praxis
Im Mittelpunkt der Analyse stand die Frage, wie das transatlantische Machtverhältnis in der sozialen Praxis hergestellt wurde, das heißt, welche sozialen Praktiken beobachtet und rekonstruiert werden konnten und wie sie hinsichtlich ihrer machtpolitischen Bedeutung zu interpretieren wären. Nach der Grundthese dieser Arbeit werden Machtverhältnisse durch komplexe Transaktionsprozesse zwischen den Akteuren hergestellt. Nun sollen die identifizierten Kategorien aufgeschlüsselt und zu einer Heuristik zusammengeführt werden.
„Status“ als Dimension der „Macht“
Konsultationspraxis
Sowohl in der Auseinandersetzung über das Positionspapier der Bundesregierung als auch im Streit über das 10 Punkte Programm konnte gezeigt werden, wie durch Artikulationspraktiken Statusunterschiede zwischen den Akteuren hergestellt, aber auch herausgefordert wurden. Wie in der Analyse bereits angedeutet, lässt sich insbesondere die Kategorie der Konsultationspraxis weiter dimensionalisieren.
Grundsätzlich konnten zwei unterschiedliche Formen einer Konsultationspraxis rekonstruiert werden. Einerseits handelt es sich um eine informelle Konsultationspraxis, die offenbar im Streit über die LANCE-Raketen durch die Bundesregierung verletzt wurde, anderseits um eine institutionalisierte Konsultationspraxis, die insbesondere im bilateralen Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich aus dem Élysée-Vertrag abgeleitet werden konnte. Diese institutionalisierte Konsultationspraxis zwischen Deutschland und Frankreich bezieht sich jedoch auf Fragen der Außenpolitik und gilt für beide Seiten gleichermaßen. Insofern wird hierdurch eine Statusäquivalenz institutionell verankert. Denkbar wäre jedoch auch eine institutionalisierte Konsultationspraxis, nach der lediglich eine Regierung einer anderen zur Konsultation verpflichtet wäre, wodurch deren Souveränität jedoch erheblich eingeschränkt und folglich auch ein formeller Statusunterschied vorläge. So könnte etwa die Einberufung des Alliierten Kontrollrates als eine soziale Praxis gesehen werden, durch die der Versuch unternommen wurde, den formellen Statusunterschied zwischen den Alliierten und der Bundesrepublik zu aktualisieren. Aber weder aus dem Deutschlandvertrag noch aus anderen Abkommen lässt sich eine einseitige Konsultationspflicht Deutschlands gegenüber den Alliierten ableiten. Eine weitere institutionalisierte Konsultationspraxis findet sich etwa in Artikel 4 des NATO-Vertrages. Diese Konsultationspflicht liegt jedoch nur für den Fall einer internationalen Krise vor, hat für die behandelten Situationen demnach keine weitere Bedeutung.
Hinsichtlich der informellen Konsultationspraxis stellt sich die Frage, in welcher Situation von einem Akteur erwartet wird, eine Handlung mit anderen Akteuren abzustimmen. Da es keine festen Regeln, also keine ‚Pflicht' gibt, entscheiden die Akteure selbst, wann sie mit welcher Regierung und in welcher Form über geplante Schritte sprechen – oder nicht. Hinsichtlich des LANCEPositionspapiers scheint nicht ganz klar zu sein, wie es schließlich in die Öffentlichkeit kam, allgemein wurde jedoch von einem ‚Leck' in der Regierung ausgegangen. Ungeachtet dessen hatte die Bundesregierung den Inhalt des Papiers ohne Konsultationen festgelegt. Aus den Reaktionen Washingtons und Londons geht hervor, dass die Bundesregierung im Falle der Veröffentlichung des LANCE-Positionspapiers offenbar gegen solch eine informelle Konsultationspraxis verstoßen hatte. Hier hatte insbesondere von Seiten der USA eine Konsultationserwartung bestanden, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Papiers nicht erfüllt wurde. Entsprechend erfolgte im Telefonat mit Kohl die Maßregelung durch den U.S.-Präsidenten, der hierdurch seinen Statusunterschied gegenüber der Bundesregierung markierte, oder wie Bob Blackwill sagte:
„[Blackwill:] Wir waren sauer, weil ihr Deutschen euch wie Amerikaner verhalten habt: erst entscheiden, dann konsultieren“ (Kiessler/Elbe 1996: 18)
Der Verstoß der Bundesregierung gegen die informelle Konsultationspraxis wurde vor allem auf der Kommunikationsebene etwa im Telefonat zwischen Bush und Kohl und auf der Interaktionsebene während des Besuchs der beiden Bundesminister in Washington D.C. verhandelt. Bush vermied es jedoch, seine Kritik an der fehlenden Absprache offen zu artikulieren und hierdurch die Bundesregierung in die Defensive zu bringen. Auch dem Willen Thatchers, die eine Isolierung der Bundesregierung forderte, gab der U.S.-Präsident nicht nach. Verstöße gegen die Praktiken der Konsultation sind offenbar Gegenstand interner Aushandlungsprozesse zur Herstellung von Statusunterschieden, die nicht an die Öffentlichkeit dringen sollen und daher auch nicht entsprechend artikuliert werden.
Aus dem Entwicklungsprozess des 10 Punkte Programms geht deutlich hervor, wie innerhalb des Bundeskanzleramts über die Konsultationspraxis verhandelt wurde. So berichtet Teltschik, man habe sich für ein abgestuftes Konsultationsverfahren entschieden, wonach die U.S.-Regierung direkt informiert wurde, während der Inhalt des Papiers erst über die Botschaften an die anderen Regierungen kommuniziert wurde. Zur Rechtfertigung führt er an, man habe sich das Papier nicht zerreden lassen und schließlich ungeachtet der geäußerten Bedenken veröffentlichen wollen, außerdem hätte in solch einem Falle auch keine andere Regierung „um Erlaubnis“ gefragt:
„Wir hätten nur Bedenken gehört. […] Und Kohl hätte dann gesagt: ‚Das mag ja alles so sein, ich setze mich darüber hinweg und halte trotzdem die Rede'. Es wäre ein noch größerer Affront gewesen. […] Kein Partner würde in einer vergleichbaren Situation je einen anderen ausländischen Partner um Erlaubnis fragen, ob er in einer zentralen nationalen Frage handeln darf“ (Teltschik a.a.O.)
Somit ist der hier entstandene Konflikt durch die Diskrepanz zwischen der Selbstermächtigung der Bundesregierung und Konsultationserwartung der Alliierten zu verstehen.
Im Vorfeld des NATO-Gipfels im Mai 1989 kam es zu einem weiteren Konflikt hinsichtlich der Konsultationspraxis. In diesem Falle wurde die britische Premierministerin von der U.S.-Regierung übergangen, da die Aufweichung des Prinzips der ‚Nicht-Verhandelbarkeit' nicht mit ihr abgesprochen war, obwohl in der Öffentlichkeit das Gegenteil behauptet wurde:
“Although we prided ourselves on consulting our allies, there were a few exceptions to the rule. The truth of the matter was that we knew what Thatcher's reaction would be and had decided not to say anything ahead of time” (Bush/Scowcroft a.a.O.)
Die Herstellung der Statusasymmetrie wurde in diesem Fall durch die NichtKonsultation erzeugt. Hier wurde nicht nur die Konsultationspflicht gegenüber Thatcher bewusst ignoriert, sondern eine Position in ihrem Namen vertreten. Erschwerend kam hinzu, dass Thatcher für eine Position vereinnahmt wurde, die sie inhaltlich überhaupt nicht teilte. Die britische Regierung hielt sich angesichts dieser Bevormundung durch die U.S.-Regierung mit einer öffentlichen Kritik jedoch auffallend zurück. Anhand der hier beobachteten Konsultationspraktiken wird der Sonderstatus der U.S.-Regierung innerhalb des transatlantischen Machtverhältnisses offenkundig. Durch die Dimensionalisierung der Kategorie lässt sich zeigen, wie ungleich die Konsultationserwartungen innerhalb des Bündnisses verteilt sind und wer gegenüber wem Rechenschaft abzulegen hat und welche Folgen ein Verstoß gegen diese Erwartungen nach sich zieht.