Handlungsanweisungen als Deutungsanspruch

Die im Streit über die LANCE-Raketen artikulierte Forderung der Bundesregierung, eine Entscheidung über die Modernisierung der Waffen zu verschieben sowie Verhandlungen über deren Abrüstung aufzunehmen, stellte nicht nur eine Verletzung der bisherigen NATO-Sprachregelung dar, die nicht mit den Verbündeten abgesprochen war, sondern enthält eine explizit artikulierte Handlungsanweisung. Die Handlungsanweisung des Positionspapiers bezog sich dabei auf die Politik des Bündnisses – verlangte demnach eine Verhaltensänderung von anderen Regierungen. Entsprechend könnte dies als eine nach außen gerichtete Handlungsanweisung bezeichnet werden.

Auch das 10 Punkte Programm enthält eine Handlungsanweisung, die jedoch an das deutsche Volk, mithin die Regierungen in der Bundesrepublik und der DDR gerichtet war. Der Versuch Kohls, die Schaffung ‚konföderativer' Strukturen als eine nach innen gerichtete Handlungsanweisung zu artikulieren, wurde international jedoch nicht akzeptiert. Aus den Reaktionen der Alliierten geht hervor, dass Kohl nicht „das Recht“ gehabt habe, diese Handlungsanweisung ohne vorherige Konsultation überhaupt auszusprechen.

Gegennarrative als Deutungsanspruch

Die Forderungen der Bundesregierung nach Verschiebung einer Entscheidung über LANCE und die Aufnahme von Verhandlungen über deren Abrüstung fanden innerhalb der NATO ein geteiltes Echo. In der Analyse konnte auf die Zustimmung durch die anderen NATO-Mitglieder nur am Rande eingegangen werden, doch aus der Kontextualisierung des Gegenstandes wird deutlich, dass Kohls Position auch von anderen NATO-Staaten unterstützt wurde. Auch in der breiten deutschen Öffentlichkeit und der außenpolitischen Elite in den USA fanden sich durchaus Befürworter von Abrüstungsverhandlungen. Hier sei nur am Rande bemerkt, dass selbst der Spiegel den Vorstoß der Bundesregierung lobte, was in der Geschichte von Kohls Kanzlerschaft Seltenheitswert haben dürfte. Kohls Deutungsanspruch schien folglich diskursiv anschlussfähig zu sein. Während die britische Regierung den U.S.-Präsidenten aufforderte, Kohl gewissermaßen durch öffentliche Isolierung zu zwingen, das alte NATO-Diktum anzuerkennen, wonach Verhandlungen abgelehnt werden, wählte Bush subtilere Strategien, um sein Missfallen auszudrücken und ein Gegennarrativ zu etablieren. Wie gezeigt, stellte Bush durch bestimmte soziale Praktiken zwar die Statusasymmetrie wieder her, zeigte jedoch keine Anzeichen, die Artikulation des Deutungsanspruches der Bundesregierung zu verhindern oder diese zur Rücknahme der Position zu zwingen. Indessen wurde von der ‚gefährlichen Falle' gesprochen, in die man tappen würde, sollten Verhandlungen aufgenommen werden. Ein deutlich offensiveres Gegennarrativ wurde von Thatcher in Deidesheim und bei anderen Gelegenheiten vorgebracht, indem sie die SNF als unerlässliche Voraussetzung für die Strategie der flexible response bezeichnete und versuchte, deren Abrüstung als eine Gefahr für die Sicherheit und Stabilität Europas darzustellen.

Thatcher nutzte die Gipfeltreffen und weiteren Gelegenheiten nicht nur, um ihre Gegennarrative in sprachlicher Form zu kommunizieren und ihre Verärgerung lebhaft auszudrücken, sondern griff in der Auseinandersetzung über das 10 Punkte Programm auf ein Mittel zurück, das als soziale Praxis eher ungewöhnlich erscheint. Sowohl Bush als auch Kohl berichteten, wie Thatcher bei einigen Gelegenheiten eine Landkarte aus ihrer Handtasche zog, die Deutschland in den Grenzen von 1937 zeigte und hierdurch das bereits in der Medienanalyse skizzierte Narrativ aktualisierte, wonach ein wiedervereinigtes Deutschland das Großmachtstreben fördern würde. Aus Perspektive des sich gerade in den IB entwickelnden Interesses an Materialität könnte man argumentieren, dass sich Thatchers Gegennarrativ in dieser Deutschlandkarte geradewegs verdichtet und materialisiert.

 
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