Schlusskapitel

Soziale Praktiken und die Herausbildung des transatlantischen Machtverhältnisses im Krisenjahr 1989

Im Mittelpunkt dieser Studie steht die Frage, wie das transatlantische Machtverhältnis im Krisenjahr 1989 in der sozialen Praxis konstituiert wurde. Durch die rekonstruktive Analyse wurde eine Heuristik entwickelt, in der die sozialen Praktiken der Macht festgehalten werden können. Die entwickelte Forschungsheuristik hilft zwar, um eine Sensibilität für soziale Praktiken in bestimmten Situationen und auf unterschiedlichen Ebenen zu entwickeln, sagt jedoch noch nichts über darüber aus, wie das transatlantische Machtverhältnis eingeordnet und gedeutet werden könnte. Um die machtpolitische Bedeutung sozialer Praktiken bestimmen zu können, wurde daher aus der bereits bestehenden Forschung zu den transatlantischen Beziehungen eine Typologie unterschiedlicher Machtordnungen entwickelt: Gleichgewicht, Hegemonie und Herrschaft. In Anschluss an einen praxistheoretisch unterlegten Machtbegriff wird argumentiert, dass diese Machtordnungen durch spezifische soziale Praktiken der Akteure hergestellt werden. Das heißt, Machtordnungen sind nicht „gegeben“, sondern werden erst in und durch die Beziehungen und Umgangspraktiken der Akteure in der sozialen Praxis konstituiert. Ob nun „Gleichgewicht“, „Hegemonie“ oder „Herrschaft“ als angemessene Begriffe erscheinen, um ein Machtverhältnis zu beschreiben, kann durch eine Interpretation der beobachteten sozialen Praktiken erschlossen werden.

In diesem abschließenden Kapitel soll nun die Frage beantwortet werden, wie das transatlantische Machtverhältnis auf Grundlage der empirischen Beobachtungen bezeichnet werden könnte. „Gleichgewicht“, „Hegemonie“ und „Herrschaft“ stehen als Idealtypen zur Bezeichnung von Machtverhältnissen bereits zur Verfügung, wobei der rekonstruktive Zugriff der Studie auch die Entwicklung einer alternativen Typologie erlauben würde.

„Hegemonie“ wurde in Anschluss an Triepel als eine Führung definiert, die auf freiwilliger Gefolgschaft basiert und ohne Ausübung von Zwangsmaßnahmen praktiziert wird. Herrschaft wäre im Gegensatz zur Hegemonie nicht durch Führung und Gefolgschaft, sondern durch den Dualismus von Befehl und Gehorsam geprägt. Eine Machtordnung des Gleichgewichts wäre wiederum von Hegemonie und Herrschaft zu unterscheiden, da durch die sozialen Praktiken der Akteure ein Verhältnis machtpolitischer Äquivalenz hergestellt wird, eine eindeutige Dominanz eines Akteurs über einen anderen wäre in der sozialen Praxis nicht zu erkennen.

Sowohl in der Auseinandersetzung über LANCE als auch im Streit über das 10 Punkte Programm spielte die Verbindung zwischen Konsultationspraktiken und Statusfragen eine erhebliche Rolle. Konsultationspraktiken werden genutzt, um Statusasymmetrien herzustellen, aber auch um sie herauszufordern. Die Reaktion Washingtons auf die Veröffentlichung des Positionspapiers der Bundesregierung zeigt beispielsweise, wie eine Verletzung der informellen Konsultationspraxis genutzt wurde, um die Statusasymmetrien zwischen beiden Regierungen wieder herzustellen, was schließlich auch von Seiten der Bundesregierung akzeptiert wurde, indem zwei Minister nach Washington entsandt wurden, um Bericht zu erstatten. Dass die nachträgliche Erfüllung der Konsultationserwartung zunächst keine Auswirkungen auf den formulierten Deutungsanspruch der Bundesregierung hatte, zeigt die Regierungserklärung Kohls vom 27. April 1989, in der die Forderungen aus dem Positionspapier offen artikuliert wurden – ungeachtet der Kritik aus Washington und trotz der Blitzreise der Minister Stoltenberg und Genscher. Die Reise der beiden Minister zeigt wiederum, dass Statusfragen nicht nur durch Konsultationspraktiken verhandelt werden, sondern auch auf der Ebene des persönlichen Umgangs, den die Akteure miteinander pflegen. Während Statusfragen bei Staatsempfängen durch das hoch formalisierte diplomatische Protokoll geregelt werden, bieten Arbeitsbesuche und informelle Treffen den Akteuren deutlich mehr Handlungsspielraum, um Befindlichkeiten und Animositäten, aber auch Sympathien in der persönlichen Interaktion zum Ausdruck zu bringen und hierbei eben auch Statusfragen auszuhandeln. Der Arbeitsbesuch der beiden Minister in Washington erscheint in diesem Zusammenhang eine geradezu schicksalhafte Begegnung gewesen zu sein. Denn bei aller ‚Herablassung', die den beiden Deutschen von der U.S.-amerikanischen Delegation entgegengebracht wurde, scheint sich gerade in dieser angespannten und als ‚frostig' bezeichneten Atmosphäre zwischen Baker und Genscher eine Beziehung des gegenseitigen Respekts, des Vertrauens und einer von beiden Politikern in ihren Memoiren bekundete Sympathie entwickelt zu haben. Hierdurch wurde wiederum eine Grundlage dafür geschaffen, um auf dem NATO-Gipfel in Brüssel, der am 29. und 30. Mai 1989 stattfand, einen Kompromiss in der verfahrenen Situation zu finden und die U.S.-amerikanische Hegemonie innerhalb des Bündnisses wiederherzustellen. Diese sozialen Praktiken, die zwischen der Bundesregierung und der Regierung in Washington zu beobachten waren, lassen auf ein Machtverhältnis schließen, das eher hegemoniale Züge trägt, wenngleich deutliche Anzeichen auf Seiten der Bundesregierung zu erkennen sind, den hegemonialen Status der US-Regierung nicht anzuerkennen und aus Eigeninteresse herauszufordern. Die Bundesregierung beanspruchte mit der Veröffentlichung des Positionspapiers ein Recht, das vor dem Hintergrund des traditionsgemäßen Machtstatus eigentlich nur der Regierung in Washington zugestanden hätte.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang erscheinen die sozialen Praktiken des U.S.-Präsidenten im Umgang mit der britischen Premierministerin. Obwohl beide Politiker darüber einstimmten, dass Kohl nicht das Recht gehabt habe, seine Position ohne vorherige Konsultation zu veröffentlichen, lehnte Bush den Vorschlag ab, die Bundesregierung öffentlich zu rügen und wies Thatchers Angebot zurück, wonach sie im Namen der Allianz gegen den deutschen Vorstoß Position beziehen könne. Auch hier spielt der Status eine wichtige Rolle. In dieser Situation schien Thatcher ihren traditionellen Status als Sprecherin der U.S.-Regierung aktualisieren zu wollen, um ihren Deutungsanspruch als Gegennarrativ zur Position der Bundesregierung zu artikulieren. Hierbei lässt sich beobachten, wie Thatcher einerseits unter ‚diskursiver Protektion' der U.S.Regierung zu handeln versuchte und somit nicht nur ihre inhaltliche Position gestärkt, sondern gleichzeitig auch eine Statusasymmetrie gegenüber der Bundesregierung hergestellt hätte. Bush ließ sich hierauf jedoch nicht ein und behielt sich das Recht vor, die Situation eigenmächtig und im persönlichen Umgang mit den Ministern zu lösen. Im Umgang mit der britischen Regierung zeigt sich in dieser Situation eine ausgeprägte Form US-amerikanischer Hegemonie, die sogar eher in Richtung Herrschaft tendierte.

In der Vorbereitungsphase des NATO-Gipfeltreffens gerieten die Statusfragen etwas in den Hintergrund, machtpolitisch interessant erscheint jedoch das Verhältnis zwischen Thatcher und Kohl. Zwar wurde das Treffen zwischen den beiden in Deidesheim noch einmal genutzt, um ihre jeweiligen Statusansprüche innerhalb des Bündnisses geltend zu machen, die inhaltlichen Positionen waren ohnehin unvereinbar, doch zeigte sich hier, dass sich unter den europäischen Akteuren in der sozialen Praxis eine Statusäquivalenz eingestellt hatte, die zu akzeptieren Thatcher offenbar nicht bereit war. Doch der Versuch, Kohl ‚Nachhilfeunterricht' in Fragen der Bündnistreue zu erteilen, konnte angesichts der persönlichen Erfahrung des Bundeskanzlers und schließlich auch seines traditionsbestimmten Status, den er sich seiner Meinung nach bei der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses erarbeitet hatte, nicht verfangen.

Das NATO-Gipfeltreffen in Brüssel zeigt schließlich, wie durch die Fähigkeit der U.S.-Regierung, die unterschiedlichen Deutungsansprüche in der sozialen Praxis auszugleichen und durch Verhandlungsstrategie einen Kompromiss zu ermöglichen, die Durchsetzung ihrer Machtposition gelang. Die Durchsetzung einer Machtposition – dies wird hier besonders deutlich – ist nicht unbedingt an die Durchsetzung des eigenen Deutungsanspruches gebunden, sondern zeigt sich in der Fähigkeit, einen Kompromiss herzustellen. Dieser Kompromiss weist dabei über die konkreten Einzelfragen hinaus und lässt den vorherigen Streit in den Hintergrund rücken. So wurde trotz des diplomatischen Tauziehens um jedes Wort gerungen, wie Baker und Genscher in ihren Memoiren schildern, die Gipfelerklärung schließlich von allen Beteiligten als ein Erfolg und eine Stärkung der NATO gefeiert.

Aus der situativ untersuchten Hochphase des Streits über die LANCERaketen wird deutlich, wie eine hegemoniale Ordnung in der sozialen Praxis herausgebildet wurde. Führung ohne Zwang und freiwillige Gefolgschaft – das zeigt sich insbesondere anhand der Umgangspraktiken zwischen der Bundesregierung und der Regierung in Washington – liegen in der sozialen Praxis keineswegs stets in idealtypischer Form vor. Dennoch kann aus der übergeordneten Betrachtung der einzelnen Situationen nicht geschlossen werden, dass die Führung der USA innerhalb des Bündnisses mit Zwang hergestellt worden sei. So finden sich keine Hinweise auf Versuche, wodurch die Artikulation von Deutungsansprüchen unterbunden oder andere Formen offenen oder latenten Zwangs angewandt worden wären, um die Einheit innerhalb des Bündnisses herzustellen. Ein Grenzfall stellt sicherlich der Umgang mit der britischen Premierministerin dar, als es darum ging, das Prinzip der ‚Nicht-Verhandelbarkeit' aufzuweichen und neuen Verhandlungsspielraum zu gewinnen, wie Scowcroft retrospektiv auch offen zugibt. Hier wurden die voice opportunities Thatchers nicht nur glatt übergangen, sondern über ihren Kopf hinweg ‚Tatsachen geschaffen' und somit genau jenes Handlungsmuster reproduziert, das man der Bundesregierung bei Veröffentlichung des Positionspapiers zu LANCE vorgeworfen hatte.

Die Herstellung eines hegemonialen Machtverhältnisses besteht aber nicht nur aus deliberativen Praktiken. Obwohl Thatcher die Möglichkeit gehabt hätte, das Vorgehen der Bush-Administration zu skandalisieren oder eine Verweigerungshaltung gegenüber jedweder Form des weiteren Kompromisses einzunehmen, stimmte sie den Gipfelbeschlüssen und somit der Aufnahme von Verhandlungen über die SNF zu, obwohl deren Verhinderung ihr erklärtes Ziel gewesen war. Bakers Verhandlungsstrategie zeigt unterdessen, wie Thatcher trotz der divergierenden Interessen die Zustimmung zu diesem Kompromiss ermöglicht wurde, ohne direkten Druck oder gar Zwang auszuüben.

Ein hegemoniales Machtverhältnis zeigt sich in dieser von Thatcher praktizierten Form der freiwilligen Gefolgschaft, die in der Subordination ihrer eigenen Deutungsansprüche gipfelte. Hierdurch wurde wiederum die Führungsrolle der USA innerhalb der NATO aktualisiert, denn ohne Thatchers Zustimmung wäre der Jubiläumsgipfel wohl gescheitert, mithin die Führungskompetenz der Bush-Regierung, die in den Wochen zuvor schon deutlich unter Druck geraten war, vollends diskreditiert worden. ‚Führung und Gefolgschaft' sind ebenso wie in einer Herrschaftsordnung ‚Befehl und Gehorsam' als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen. Ein Machtverhältnis wird durch diese wechselseitig aufeinander Bezug nehmenden sozialen Praktiken herausgebildet, in denen sich ‚Führung und Gefolgschaft' oder ‚Befehl und Gehorsam' ausdrücken, wodurch wiederum die Relationalität von Machtverhältnissen deutlich wird.

Ob nun der Begriff der ‚Hegemonie' oder der ‚Herrschaft' als angemessen erscheint, um ein Machtverhältnis zu beschreiben, hängt von der Interpretation der beobachteten sozialen Praktiken ab. So könnte mit Blick auf die beobachteten Umgangspraktiken durchaus die Frage gestellt werden, ob das bilaterale Verhältnis zwischen Bush und Thatcher noch als Hegemonie bezeichnet werden kann oder ob hier nicht ansatzweise Formen eines herrschaftlichen Machtverhältnisses offenkundig geworden sind. Entsprechend müsste überzeugend argumentiert werden, dass durch die sozialen Praktiken eine Ordnung etabliert wurde, die im Modus von ‚Befehl und Gehorsam' operiert. Auch wenn diese Interpretation zunächst naheliegend erscheint, so sei doch darauf verwiesen, dass Thatcher zu keinem Zeitpunkt einem direkten Zwang oder Druck durch die U.S.Regierung ausgesetzt war und zumindest nicht nachweislich auf Befehl der U.S.Regierung handelte – ihre Entscheidung zum Gipfelkompromiss, der ihren erklärten Interessen offensichtlich widersprach, hätte folglich auch anders ausfallen können.

Auch im Machtverhältnis zwischen Bonn und Washington gibt es grenzwertige Praktiken. Wie gezeigt, stellt die Bush-Administration den Statusunterschied zur Bundesregierung in der sozialen Praxis vor allem durch eine wenig zuvorkommende Behandlung der beiden Bundesminister in Washington wieder her – von freiwilliger Gefolgschaft kann hier nicht unbedingt die Rede sein. Die Möglichkeit Genschers jedoch, die sozialen Praktiken zu problematisieren und das Verhalten der U.S.-Regierung zu kritisieren, deutet jedoch wiederum auf ein Machtverhältnis hin, in dem die Gefolgschaft gerade nicht erzwungen wurde.

Auf Ebene der Deutungsansprüche glich die U.S.-Regierung ihre Position jedoch immer weiter den Forderungen der Bundesregierung an – zur Verärgerung der Briten. Wurde der Vorschlag der Bundesregierung, Verhandlungen mit den Sowjets über die SNF aufzunehmen, zunächst als ‚gefährliche Falle' bezeichnet in die man nicht tappen dürfe, änderte die Bush-Administration ihre Haltung und weichte hierdurch das Prinzip der ‚Nicht-Verhandelbarkeit' auf.

Durch diesen Schritt bewegte sich die U.S.-Regierung deutlich auf die Bundesregierung zu, ging gleichzeitig jedoch auf Distanz zur Haltung Thatchers.

In Bushs Mainzer Rede von der ‚Partnerschaft in der Führung' wurde schließlich auch rhetorisch offensichtlich, was sich in diesen sozialen Praktiken bereits angedeutete hatte: mit Blick auf die Transformationsprozesse in Osteuropa definierte die U.S.-Regierung die Rolle der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses neu. Die Regierung Kohl erfuhr durch die Mainzer Rede eine Statusaufwertung, die sich jedoch nicht nur auf der sprachlichen Ebene zeigt, sondern durch den expliziten Blick auf die sozialen Praktiken in den Transaktionsmustern der Akteure rekonstruieren lässt.

Die Praktiken in der Auseinandersetzung über Kohls 10 Punkte Programm ähneln jenen, die bereits während des Streits über LANCE offenkundig wurden. Auch hier war eine nicht abgesprochene Artikulation der Bundesregierung der Auslöser für einen Streit innerhalb des Bündnisses. Im Streit über die 10 Punkte wurde besonders deutlich, dass etwa die im Élysée-Vertrag geregelte wechselseitig verpflichtende Konsultationspraxis zwischen Frankreich und Deutschland als Versuch gedeutet werden kann, eine Statusäquivalenz zwischen beiden Ländern zu institutionalisieren. Somit stellt sich die Frage, ob diese Statusäquivalenz durch Veröffentlichung des 10 Punkte Programms gestört beziehungsweise durch die Artikulationspraxis des Bundeskanzlers herausgefordert wurde. Während Tilo Schabert (Schabert 2002: 416) in seiner Auseinandersetzung mit der Rolle Frankreichs hinsichtlich des Wiedervereinigungsprozesses auf diesen Punkt verweist, behauptet Mitterrand, dass Kohl zwar die Figuren auf dem Schachbrett in seinem Sinne bewegte, die ‚Spielregeln' jedoch nicht geändert habe (Mitterrand 1998: 55). Aus der Eigenlogik des 10 Punkte Programms heraus, das gerade die ‚Selbstbestimmung des deutschen Volkes' in der Wiedervereinigungsfrage in den Mittelpunkt stellt, war die Nicht-Konsultation der Alliierten folgerichtig. Die abgestufte Konsultationspraxis, wonach Bush persönlich und vor allen anderen unterrichtet wurde, könnte als Ausdruck der freiwilligen Gefolgschaft sowie Anerkennung der Führungsrolle Washingtons und somit als eine soziale Praktik interpretiert werden, wodurch das hegemoniale Machtverhältnis gegenüber der USA aktualisiert wurde – eine Praxis die während des LANCE-Streits gerade nicht eingehalten wurde. Gleichzeitig drückt sich hierin der Anspruch auf Statusäquivalenz gegenüber den restlichen Siegermächten aus – mit Ausnahme der USA, deren Führungsrolle freimütig akzeptiert wurde.

Auch in diesem Fall entzündete sich die Kritik zunächst an der mangelnden Konsultation der Alliierten, die – bis auf die USA – nicht über die Absichten der Bundesregierung informiert worden waren. Durch den expliziten Verweis auf die ‚Selbstbestimmung' mobilisierte Kohl zudem einen historischen Begriff, den er schon in den frühen 1980er Jahren mit Blick auf die deutsche Frage gebrauchte. Doch während damals der Vorwurf gegenüber der Führung in Moskau mitschwang, die Selbstbestimmung der DDR-Bürger zu unterdrücken, stellt sich mit Blick auf die zurückhaltenden Reaktionen Frankreichs und Großbritanniens hinsichtlich einer deutschen Wiedervereinigung der Verdacht ein, Kohl wollte durch das 10 Punkte Programm vor allem das Selbstbestimmungsrecht gegenüber den eigenen Verbündeten behaupten. Selbstbestimmung scheint hier eine doppelte Bedeutung zu haben – einmal als ‚Recht des deutschen Volkes', die Wiedervereinigung herzustellen, aber auch das ‚Recht der Bundesregierung', ihre Meinung zu dieser Frage ohne Rücksprache mit den Verbündeten äußern zu dürfen – so könnte zumindest Teltschiks Rechtfertigung der ‚abgestuften Konsultationspraxis' interpretiert werden. Insofern könnte der Bundesregierung Bushs Formulierung von der ‚Partnerschaft in der Führung' durch die Artikulation des 10 Punkte Programms eine eigenständig Auslegung unterstellt werden. Die Anerkennung der Führung zeigt sich in der sozialen Praxis jedoch in der unmittelbaren Vorabinformation des U.S.-Präsidenten, während die anderen Regierungschefs über die jeweiligen Botschaften informiert wurden.

Diese soziale Praxis scheint einen Eindruck zu bestätigen, der sich bereits in der LANCE-Kontroverse zeigte: das transatlantische Machtverhältnis besteht aus unterschiedlichen Ebenen. Die bilateralen Machtverhältnisse sowohl zwischen Bonn und Washington als auch zwischen London und Washington tragen größtenteils hegemoniale Züge. Die sozialen Praktiken scheinen weitgehend mit der Vorstellung zu korrespondieren, wonach Hegemonie im Idealfall durch eine Führung ohne Zwang und eine freiwillige Gefolgschaft hergestellt wird. Die innereuropäischen Machtverhältnisse wirken dagegen eher durch ständige Rivalitäten geprägt, die in den sozialen Praktiken der Akteure deutlich werden. Die Dominanz eines Akteurs lässt sich nicht erkennen, wohl aber die Statusaufwertung der Bundesrepublik durch die Regierung in Washington und dies bereits vor Vollzug der Wiedervereinigung.

Hierbei wird besonders deutlich, weshalb der praxistheoretische und relationale Blick erforderlich ist, um die machtpolitische Bedeutung der Umgangspraktiken einordnen zu können. Durch das ‚Gehabe' eines Politikers oder einer Politikerin an sich wird noch keine Dominanz hergestellt – erst in den Beziehungen lässt sich erkennen, ob der Anspruch auf eine Führungsrolle in der sozialen Praxis akzeptiert wird oder nicht. Durch die Analyse wird deutlich, wie etwa Margaret Thatcher immer wieder versuchte, durch ihre Aufritte eine Führungsposition zu reklamieren, dies jedoch sowohl von den europäischen Verbündeten als auch den USA zurückgewiesen wurde. Die Machtansprüche der Bundesregierung wurden von den europäischen Verbündeten scheinbar vor allem aufgrund der Unterstützung durch Washington akzeptiert.

Während LANCE primär eine Angelegenheit zwischen London, Bonn und Washington war, betraft die ‚deutsche Frage' nicht nur die westlichen Alliierten, sondern auch Moskau und mithin die Staaten des Warschauer Pakts, womit sich weitere Akteure hinzugesellten. Obwohl die Fragestellung der Arbeit die Herausbildung des transatlantischen Machtverhältnisses in den Mittelpunkt rückt, wurde durch die Einbeziehung der sowjetischen Perspektive eine Kontrastfolie entwickelt, da doch anzunehmen ist, dass in den Beziehungen zu Moskau andere soziale Praktiken deutlich werden.

Schließlich reagierte auch Gorbatschow besonders verärgert auf Kohls Vorstoß Richtung Wiedervereinigung, der auch mit ihm nicht abgesprochen war. Während U.S.-Präsident Bush noch darum bemüht war, Gorbatschow in Malta hinsichtlich des 10 Punkte Programms zu besänftigen – schließlich hätten ‚die Deutschen Tränen in den Augen, wenn sie über die Einheit sprächen' – reagierte Gorbatschow in einem Gespräch mit Genscher ungehalten und barsch. Die Vorwürfe und der Ton, der durch das Protokoll Galkins und Tschernjajews wiedergegeben wird, findet in den innerwestlichen Auseinandersetzungen kaum eine Entsprechung. Zwar ‚zeterte' Thatcher unablässig über Kohls Politik, drohte in Deidesheim sogar mit dem Abzug der Rheinarmee, sollten die LANCE-Raketen nicht modernisiert werden und präsentierte sowohl Bush in Camp David als auch ihren europäischen Kollegen beim Gipfel in Straßburg ihre berühmte Deutschlandkarte, um die ‚Expansionsabsichten' der Bundesregierung zu verdeutlichen. Doch das Potential, das hinter den Drohungen der britischen Premierministerin stand, kann sicherlich nicht ansatzweise mit denjenigen des Mannes verglichen werden, der die bis dahin friedlich verlaufenden Proteste der Menschen in der DDR durch Anordnung eines Militäreinsatzes hätte niederschlagen lassen können. So soll an dieser Stelle auch deutlich werden, dass der hier entwickelte Machtbegriff das Machtpotential der Akteure nicht vernachlässigt, das sich auch in materiellen Fähigkeiten ausdrückt. Insofern gewinnt hier die Möglichkeit der Durchsetzung einer Machtposition mittels der Anwendung militärischer Gewalt eine grundlegend andere Bedeutung als in der Herstellung des transatlantischen Machtverhältnisses, das ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass die Anwendung der Gewalt als Mittel der Konfliktlösung ausgeschlossen wurde.

Bei der Analyse des Gesprächs zwischen Genscher und Gorbatschow wurde festgehalten, dass hier zwar auch das Machtverhältnis durch soziale Praktiken hergestellt wurde, eine Interpretation vor dem Hintergrund der bestehenden Typologie jedoch nicht möglich ist. „Hegemonie“ und „Gleichgewicht“ scheiden ohnehin aus, die sozialen Praktiken deuten aber auch nicht unmittelbar auf ein Herrschaftsverhältnis hin. Die entscheidende soziale Praktik scheint die Drohung Gorbatschows gegenüber Genscher zu sein, wonach er die Differenzen zwischen beiden Regierungen öffentlich machen werde, sollte die Bundesregierung nicht zur ‚Vernunft' kommen. Genscher akzeptierte diese Drohung, da er befürchtete, die Lage in der DDR könne eskalieren, sollten die Meinungsverschiedenheit an die Öffentlichkeit gelangen. Möglicherweise erscheint der Begriff eines „anarchischen“ Machtverhältnisses angemessen, um die Beziehungen zwischen Bonn und Moskau zu beschreiben. Diese Überlegung kann jedoch auf Basis des empirischen Materials nicht weiter gesättigt werden, hier wäre weitere Forschung notwendig, die sich mit der Herausbildung einer gesamteuropäischen Machtordnung beschäftigt und insbesondere die Staaten des Warschauer Pakts explizit mit einbezieht.

Im Streit über die 10 Punkte wird vor allem deutlich, wie die U.S.Regierung ihre Führungsposition festigte und aktiv nutzte, um die Pläne zu einer Wiedervereinigung zu unterstützen. Hierbei nahm eine Artikulation eine herausragende Stellung ein: der 4 Punkte Plan. Der 4 Punkte Plan ist vor dem Hintergrund der Frage, wie Machtverhältnisse konstituiert werden, besonders bedeutsam, da sich hierin das Selbstverständnis der U.S.-Regierung ausdrückt, den Vorstoß des Bundeskanzlers zu unterstützen und somit gegen Attacken der anderen Bündnispartner in Schutz zu nehmen. Der elementare Deutungsanspruch des 10 Punkte Programms, also die Forderung nach ‚Selbstbestimmung', geriet nach Kohls Rede vor dem Bundestag von verschiedenen Seiten unter Druck. Durch Bakers 4 Punkte Plan wurde das ‚Selbstbestimmungsrecht' unter bestimmten Voraussetzungen als Deutungsanspruch ‚konserviert' und geschützt. Die U.S.Regierung eignete sich das 10 Punkte Programm teilweise an, ergänzte es jedoch um entscheidende Stellen, wie etwa die NATO-Mitgliedschaft oder die internationale Einbettung des Prozesses und ermöglichte somit den kritischen Staaten die Zustimmung. Auch hier zeigt sich die Fähigkeit der U.S.-Regierung, eine Kompromisslösung zu finden und in eine Sprachregelung zu überführen, die konsensfähig erscheint. Die Erklärung von Straßburg über die heftig gestritten wurde und der 4 Punkte Plan artikulieren im Grunde einen gemeinsamen Deutungsanspruch, was zumindest nach Rice/Zelikow auch der CIA aufgefallen war.

Die Einberufung des Alliierten Kontrollrates, die auf den Wunsch Moskaus erfolgte, kann hinsichtlich der Aushandlung von Machtverhältnissen als die Antwort Moskaus auf Kohls 10 Punkte betrachtet werden, da der offen artikulierte Deutungsanspruch der Selbstbestimmung unweigerlich den traditionsbestimmten Status der Alliierten herausforderte. Auch wenn die Machtdemonstration der Alliierten einen rein symbolischen Wert hatte, da keine deutschlandspezifischen Fragen diskutiert wurden, beziehungsweise Versuche Moskaus, das Forum für derartige Zwecke zu nutzen von den Westalliierten unterbunden wurden, drückt diese soziale Praktik einen enormen Statusanspruch aus und ist folglich auch machtpolitisch bedeutsam. Genschers Verärgerung über diese Machtdemonstration blieb schließlich nicht ohne Wirkung, denn dies war die letzte Sitzung dieses Gremiums, obwohl es weitere Vorstöße der Sowjets gab, den Einigungsprozess auf die Ebene der Vier Mächte zu heben, was jedoch insbesondere von den USA nicht akzeptiert wurde (Rice/Zelikow 1999: 220).

Doch was bedeutet nun Macht als soziale Praxis und wodurch unterscheiden sich Gleichgewicht, Hegemonie und Herrschaft als Machtverhältnisse voneinander? Wie bereits dargelegt, unterscheiden sich die sozialen Praktiken der innerwesteuropäischen Beziehungen erheblich von denen, die in den bilateralen Beziehungen europäischer Staaten zu den USA beobachtet werden können. Thatcher versuchte zwar in der ein oder anderen Situation, eine hegemoniale Machtrolle in Europa zu ‚imitieren' oder zumindest als ‚Stellvertreterin' Washingtons aufzutreten – etwa gegenüber Kohl in Deidesheim –, doch zeugt die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit ihrer Machtposition davon, dass ihre Rolle nicht von den anderen Akteuren anerkannt wurde. Insofern befand sich Thatcher in einem permanenten Statuskonflikt, da die sozialen Praktiken und der ihr von den anderen Akteuren zugesprochene Status nicht übereinstimmten.

Bei Bush verhält sich dies grundlegend anders und hier zeigt sich in nahezu jeder Situation, was Führung ohne Zwang und freiwillige Anerkennung bedeutet, also wie hegemoniale Macht „praktiziert“ wird. Besonders deutlich wird dies in den bilateralen Verhältnissen zwischen Deutschland und den USA sowie zwischen Großbritannien und den USA. Beide Machtverhältnisse können als hegemonial bezeichnet werden und dennoch zeigen sich auf Ebene der sozialen Praktiken erhebliche Unterschiede. Während die Bundesregierung die hegemoniale Machtposition der U.S.-Regierung grundsätzlich anerkannte, deuten die sozialen Praktiken sowohl im Streit über die LANCE-Raketen als auch in der Auseinandersetzung über das 10 Punkte Programm auf die Entwicklung einer ‚Sonderbeziehung' hin. Der Vorteil des hier verfolgten Ansatzes besteht nun darin, dass dies nicht nur anhand Bushs Mainzer Rede und der Formulierung einer „partnership in leadership“ auf sprachlicher Ebene nachgezeichnet werden kann, sondern auch anhand der komplexen Interaktionsprozesse zwischen beiden Regierungen. Der gewählte Ansatz besitzt eine empirische Sensibilität für kleine Gesten, aber auch für persönliche Beziehungen sowie ‚atmosphärische Schwankungen', die bei persönlichen Begegnungen der Akteure mitunter auftreten und ist in der Lage, deren machtpolitische Bedeutung vor dem Hintergrund der Forschungsheuristik zu erfassen. So etwa wenn Genscher eine Situation schildert, in der ein hochrangiges Delegationsmitglied der U.S.-Regierung eine Besprechung verlässt, um an einer Universität eine Rede zu halten, in der dieser wiederum kritisch Bezug auf den Inhalt der Beratungen nimmt – woraufhin Genscher sich über diesen ‚Umgang' bei Baker beschwerte. Diese Begebenheiten haben keinerlei Auswirkungen auf die Verteilung materieller Ressourcen zwischen den USA und der Bundesrepublik und dennoch erscheinen sie durch die entwickelte Heuristik betrachtet als machtpolitisch hoch bedeutsam, da durch solcherlei Praktiken Statuts- und Deutungsansprüche artikuliert werden.

Die in dieser Studie angewendete Mikroperspektive birgt aber den Nachteil, dass aufgrund der kleinteiligen Analyse kaum größere Zeitabschnitte betrachtet werden können. Um zu Aussagen über die weitere Entwicklung und die Herausbildung einer transatlantischen Machtordnung zu gelangen, müsste ein Zeitschnitt angesetzt werden, wodurch beispielsweise die Auseinandersetzung über den Irakkrieg oder den Umgang mit dem NSA-Skandal betrachtet werden könnte.

Als Fazit dieser Arbeit lässt sich jedoch festhalten, dass sich die entwickelte Heuristik als Instrument zur Analyse von Machtverhältnissen in der Forschungspraxis als durchaus brauchbar erwiesen hat. Die abstrakte Betrachtung der Herausbildung von Machtverhältnissen in den drei Dimensionen der Herstellung von Statusunterschieden, der Aushandlung von Deutungsansprüchen und der Durchsetzung von Machtpositionen konnte durch das rekonstruktive Verfahren zur Identifikation sozialer Praktiken empirisch gefüllt und gezeigt werden, wie Macht als soziale Praxis ausgeübt wird . Hierbei wurde deutlich, dass die politischen Beziehungen der genannten europäischen Staaten zu den USA durchaus hegemoniale Züge tragen, da sich durch den rekonstruktiven Zugriff nachzeichnen lässt, wie Führung und Gefolgschaft durch die Akteure praktiziert und hergestellt werden. Die Machtordnung der europäischen Verbündeten unterscheidet sich hiervon grundlegend – hier erscheint der Begriff des Gleichgewichts angemessen. Problematischer ist die Einordnung der Machtverhältnisse zu Moskau. Obwohl diese Beziehung strenggenommen nicht mehr Teil die Fragestellung ist, wurde deutlich, dass die Typologie von Machtordnungen Grenzen hat und erweitert werden muss. Der Befund, wonach hier möglicherweise ein Machtverhältnis vorliegt, das anarchische Züge trägt, müsste sowohl theoretisch als auch empirisch weiter ausgearbeitet werden.

 
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