Die Bestimmung unterrichtlicher Aneignung II: Die Anwendung der ‚richtigen' Deutung und die Entschärfung von Inkonsistenzen zum Zwecke der Fortsetzbarkeit des Unterrichts

Nachdem die ‚richtige' Deutung der filmischen Handlung unter Beteiligung mehrerer Schüler eingeübt wurde, setzt die Lehrerin die klassenöffentliche Vorführung des Films fort. In diesem wird nun eine kurze Szene gezeigt, die den Gegenstand eines weiteren kurzen Unterrichtsgesprächs bildet, in dem die Schüler nun das zuvor eingeübte Interpretationsmuster selbständig zur Anwendung bringen sollen. Die Szene, um die es dabei geht, ist die folgende: Beim Betreten der heimischen Wohnung hören Peter und sein jüngerer Bruder Willi aus dem Wohnzimmer Schreie, die offenbar von der Mutter der beiden Jungen stammen. Als die beiden im Wohnzimmer eintreffen, sehen sie, wie ihre Mutter durch den Blockwart des Hauses, Herrn Hinz, geohrfeigt wird. Peter stürzt sich, seine Mutter verteidigend, auf den Blockwart und wird von diesem zurückgestoßen. Bevor Peter ein weiteres Mal angreifen kann, wirft sich seine Mutter zwischen die Kontrahenten und kann so eine weitere Eskalation der Situation verhindern.

Den Grund für die Auseinandersetzung zwischen dem Blockwart und Peters Mutter kann man als Zuschauer dieses Films nur mühsam rekonstruieren. In einem Gespräch, das der gerade geschilderten Szene vorangeht, spielt der Blockwart zunächst mit einem kurzen Hinweis auf die Vergangenheit von Peters Mutter an (vgl. Z. 457). Diese Anspielung bezieht sich vermutlich auf Peters Vater, der, wie an anderen Stellen des Films deutlich wird, bereits früh mit dem nationalsozialistischen Regime in Konflikt geraten ist und nach dem Aufenthalt in einem Arbeitslager verstarb. Der Blockwart weiß offenbar um diese Vergangenheit und scheint Peters Mutter mit diesem Wissen erpressen zu wollen. Für sein Schweigen verlangt er anscheinend eine Gegenleistung von Peters Mutter – möglicherweise handelt es sich um das Einfordern von sexueller Gefügigkeit. Als Peters Mutter sich gegen diese Erpressung zur Wehr setzt, versucht der Blockwart seinen Forderungen mit Gewalt Nachdruck zu verleihen. Daraufhin kommt es zu der oben beschriebenen Szene.

Nachdem nun Peter und der Blockwart von Frau Müller auf Distanz gebracht worden sind, klopft es an der Haustür. Vor der Tür steht – wie sich an späterer Stelle des Films herausstellt – der SS-Mann Knopp. Nach einem kurzen Gespräch mit Knopp verabschiedet sich der Blockwart. An dieser Stelle wird der Film angehalten. Die Lehrerin fordert ihre Schüler nun auf, die gerade gesehene Szene „amal (…) festzuhalten“ (Z. 496). Nachdem sie sich dann mit ihren Schülern kurz über einige Namen der Protagonisten des Films verständigt hat (vgl. Z. 499ff.), kommt es von Seiten der Lehrerin zur folgenden Präzisierung ihres Arbeitsauftrags:

514 Lw: Vielleicht geht's auch ein bissl auf die Gefühle ein, die jetzt schon beginnen, da

515 (…) eine besondere Rolle zu spielen?

516 (5 sec.)

517 Edi?: Soll'n wer a Watsch'n schreiben?

518 Veit: I hab geschloag'n g'schrieben.

519 Uli: > {zur Lw:} Wer war das, der Thomas? <

520 Veit: Peter!

521 Bert: Peter und Philipp.

522 Lw: Ich glaube nicht, dass die Watsch'n das Wichtige is, sondern eher d-i-e (.)

523 Situation, die der Herr Blockwart (...) verbreitet (.) und was der macht.

Mit einem „Vielleicht“ (Z. 514) rät die Lehrerin ihren Schülern auf die im Film dargestellten „Gefühle“ (ebd.) einzugehen. Damit wählt sie eine ganz bestimmte Adressierungsform: Die Schüler können ihrem Rat folgen, müssen es aber nicht. Sie werden als diejenigen angesprochen, die die Gefühle der Protagonisten des Films selbständig in ihrem Heft festhalten sollen. Zugleich wird aber auch deutlich gemacht, dass dieser Aspekt in Zukunft noch wichtig werden wird, denn „jetzt schon“ (Z. 514) würden die Gefühle eine „besondere Rolle“ (Z. 515) spielen, was impliziert, dass sie in späteren Teilen des Films aus der Sicht der Lehrerin noch wichtiger werden. Hier wird für die Schüler gleichsam eine Spur für die ‚richtige' Interpretation gelegt. Obwohl die anfängliche Adressierung die freie Entscheidung der Schüler zu akzentuieren scheint, wird anschließend – mit dem bekannten Mittel des pädagogischen Takts [1] – den Schülern mehr oder weniger unmissverständlich nahe gelegt, auf welche Aspekte der Szene sie einzugehen haben.

Nicht schwer zu sehen ist, dass die Schüler auf die gezeigte Szene ein ähnliches Deutungsmuster applizieren sollen, wie es in der vorangegangenen Interaktion eingeübt wurde. Die Frage nach den Gefühlen der Protagonisten zielt in eine ähnliche Richtung wie die im Vorangegangenen mehrfach gestellten Warum-Fragen. Vermutlich sollen die Schüler über die Imagination der Gefühle von Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein bei Peter und seiner Mutter zu einer Erkenntnis der gesellschaftlichen Situation kommen, die sich in dieser Szene ausdrückt.

Allerdings scheint das Beobachtungsschema, das die Lehrerin ihren Schülern am Beginn der Stunde mitgeteilt hatte, für die Interpretation dieser Szene nicht ganz passend zu sein. Weder ‚Juden' noch die ‚Freunde von Peter' (die ‚Swing-Kids') sind in dieser häuslichen Szene vertreten, sondern hier geht es eher um den ‚staatlich-totalitären' Zugriff auf die Privatsphäre einer mutmaßlichen Regimegegnerin. Damit tritt in diesem Film eine weitere Außenseitergruppe auf den Plan. Nicht nur die ‚Juden' und die ‚Swing Kids' gehören zu den Ausgeschlossenen der Nazigesellschaft, sondern auch Peters Mutter als Witwe eines Regimegegners müsste nun auch noch zu den Außenseitern dieser Gesellschaft gezählt werden. Diese

Außenseitergruppe hatte die Lehrerin aber nicht erwähnt, als sie den Schülern empfahl, ihre Beobachtungen in einer Tabelle zu notieren (s.o.).

Die Aufforderung der Lehrerin wird nun mit einer Nachfrage von Edi beantwortet: „Soll'n wer a Watsch'n schreiben?“ (Z. 517). Mit dieser Rückfrage macht Edi deutlich, dass es sich bei dem zu erfüllenden Arbeitsauftrag in Wahrheit nicht um eine von den Schülern selbständig zu erstellende Interpretation der Szene handelt. Vielmehr „sollen“ die Schüler die Szene so festhalten wie es den Intentionen ihrer Lehrerin entspricht. Edi hat die taktvolle Kommunikation seiner Lehrerin klar durchschaut: Nicht um eine eigenständige Interpretation geht es, sondern um das möglichst präzise Erraten der Intentionen seiner Lehrerin, denn letztlich entscheidet sie darüber – das scheint Edi genau zu wissen – wie diese Szene zu interpretieren ist. Die für Unterricht typische Engführung des Wissens, das von der Lehrperson verwaltet wird, hat sich hier also gleichsam in die Adressierungsform eingeschrieben, mit der Edi seine Lehrerin anspricht.

In dieser Sequenz wird zudem deutlich, dass Edi den bereits eingeübten Interpretationsmodus, d. h. die Analyse von Motiven und deren soziale und politische Kontexturen, von denen der Unterricht unterstellt, dass sie den im Film sichtbaren Geschehnissen unterlegt sind, nicht zur Anwendung bringt. Nicht die Gefühle der Macht oder der Unterlegenheit sind für ihn protokollierenswert, sondern er ‚klebt' gleichsam an dem zu sehenden filmischen Geschehen, das seinen dramatischen Höhepunkt für ihn offenbar darin hat, dass Peters Mutter von Herrn Hinz, dem Blockwart, geschlagen wird. Es ist zudem nicht nur Edi, der sich an der Oberfläche des Gesehenen orientiert. Auch Veit hat in sein Heft notiert, dass Peters Mutter

„geschloag'n“ (Z. 518) wurde. Diese beiden Schülerantworten machen zumindest auf der kommunikativen Ebene deutlich, dass der zuvor eingeübte Interpretationsmodus von den Schülern – aus welchen Gründen auch immer – nicht angewendet wird. Was die Schülern demgegenüber aber sehr gut beherrschen, ist das Abschätzen der Intentionen, die die Lehrerin mit ihrem Arbeitsauftrag verbindet. In diesem Sinne könnte man folgern, dass sie einen wichtigen Teil ihrer schulischen Sozialisation erfolgreich bewältigt haben. Sie wissen, dass man Arbeitsaufträge nicht immer so verstehen darf, wie sie sich möglicherweise auf den ersten Blick darbieten.

Dass die Schülerbearbeitung des mit der Filmszene verbundenen Arbeitsauftrages nicht ihren Anforderungen entspricht, macht die Lehrerin nach einer abermaligen Klärung der Namen der Protagonisten des Films durch die Schüler Uli, Veit und Bert (vgl. Z. 519-521) mit den folgenden Worten deutlich: „Ich glaube nicht, dass die Watsch'n das Wichtige is, sondern eher d-i-e Situation, die der Herr Blockwart (..) verbreitet (.) und was der macht“ (Z. 522-523). Weiter im Modus taktvoller Kommunikation versucht sie ihre Schüler mit einer indirekten Formulierung („Ich glaube nicht“) auf die Spur der gewünschten Deutung zu bringen. Nicht die gesehene Ohrfeige ist nach ihren Worten dasjenige, was den Kern der Szene ausmacht, sondern es sei die „Situation“ (Z. 523), die der Blockwart „verbreitet“ (Z. 523), und es seien die Handlungen („was der macht“), die er ausführe. Mit diesem Hinweis auf eine thematische Inkonsistenz versucht sie ihre Schüler aus einer konkretistischen Auffassung der Szene hinaus zu führen. Ziel scheint es zu sein, dass die Schüler über die Beschreibung der Gefühle, die die Protagonisten dieses Films möglicherweise haben, zu einem Verständnis der menschenverachtenden Realität des nationalsozialistischen Regimes kommen.

Offen bleibt hier allerdings die Frage, wie die Schüler von der Interpretation der Motive und Gefühle der Protagonisten zu einem Verständnis des nationalsozialistischen Machtapparats kommen sollen. Dass zu diesem Schritt auch das den Schülern zu Anfang der Stunde an die Hand gegebene Beobachtungsschema nicht weiterhilft, wird in der folgenden Passage deutlich, in der Veit seine Lehrerin nach den Einsatzmöglichkeiten dieses Schemas fragt. Nahezu unmittelbar im Anschluss an die zuletzt zitierte Sequenz ergibt sich folgender Dialog zwischen ihm und seiner Lehrerin:

531 Veit: tVeit > {leise zur Lw:} I hab jetzt da (a Tabelle zwischen Freunde und (eben) äh

532 dem Nationalsozial| also der Juden und Nationalsozialismus.)

533 Lw: Hmhm.

534 Veit: Was haben Sie g'meint mit den Juden beim Nationalsozialismus? Wie hätt' mer

535 das dazu schreiben können? < 536 (..)

537 Lw: Noch goar nix. Weil da hast [ ja jetzt noch nix sagen können.

538 Veit: [ Ach so.

539 Lw: Aber wenn, dann ob die verfolgt werden ( ) oder was da passiert.

540 Veit: So.

541 Lw: So gemeint. > {laut:} Geht schon? (.) Alle fertig? <

542 S?: Nein.

543 S?: Ja.

544 Lw: Bitte. {startet Film erneut}

Veit ist in dieser Situation nun nicht mehr klar, was er mit dem eingangs ins Heft diktierten Beobachtungsraster anfangen soll: „Was haben Sie g'meint mit den Juden beim Nationalsozialismus? Wie hätt mer das dazu schreiben können?“ (Z. 534f.). Dass der Blockwart Hinz stellvertretend das NS-Regime verkörpert und dass sein Verhalten zeigen könnte, in welcher Weise die mangelnde Rechtssicherheit im faschistischen Staat von dessen Helfershelfern ausgenutzt wird, scheint der Lehrerin in dieser Situation nicht in den Sinn zu kommen. Ihrer Aussage zufolge hat diese Szene mit dem den Schülern ins Heft diktierten Beobachtungsschema „noch goar nix“ (Z. 537) zu tun. Anlässlich von Veits Frage weist sie damit ihren zuvor gegebenen Arbeitsauftrag als inkonsistent mit der gerade laufenden Kommunikation aus.

Die Unterrichtskommunikation scheint damit in eine aporetische Situation zu geraten. Obwohl die Lehrerin die Schüler aufgefordert hatte, die Gefühle der Protagonisten in ihrem Heft festzuhalten, sollen diese Gefühle nun mit dem bereits im Heft stehenden Beobachtungsschema nichts zu tun haben. Anstatt nun aber diese sachliche Inkonsistenz einer didaktischen Kritik zu unterziehen, ist aus kommunikationstheoretischer Perspektive die Frage zu stellen, wie der Unterricht in dieser Situation seine Fortsetzung organisiert. Offenbar wird hier eine bestimmte Vergangenheit des Unterrichts (der Arbeitsauftrag im Heft der Schüler) unter Inanspruchnahme der Lehrerautorität (Sozialdimension) vom aktuell verhandelten Thema abgetrennt. Die Vergangenheit und eine bestimmte mit dieser verbundene thematische Erwartung in der Sachdimension werden ausgeblendet, um den Unterricht fortzusetzen. Diese Entscheidung der Lehrerin wird nun auch von Schülerseite – weder auf der Ebene der offiziellen Unterrichtskommunikation noch durch provokative Kommentare auf der Nebenbühne des Unterrichts – zum Gegenstand der Kommunikation gemacht. Lehrerin und Schüler arbeiten insofern gemeinsam an der möglichst reibungslosen Rückkehr zur Präsentation des Films, in dem sich beide Seiten auf die mit der Rolle der Lehrperson verbundenen Entscheidungsgewalt verlassen [2].

  • [1] Luhmann (1996) bestimmt die taktvolle Kommunikation im Feld der pädagogischen Kommunikation als eine Lösung des Problems des Umgangs mit dem „Paradox von Kausalität und Freiheit“ (ebd., 280): „In der Sache geht es um den Versuch, Einfluß zu nehmen, ohne die freie Selbstbestimmung des anderen offensichtlich in Frage zu stellen“ (ebd.). Das kann durch taktvolle Kommunikation geschehen. Man räumt dem Zögling Freiheitsspielräume ein, lässt aber gleichzeitig durchblicken, dass diese Freiheit ihre mehr oder weniger engen Grenzen hat. Diese Kommunikationsstrategie führt dann aber zu dem Problem, dass die taktvolle Kommunikation „als taktvoll erkennbar ist und man deshalb wissen kann, daß sie nicht ganz so gemeint ist, wie sie sich darstellt“ (ebd., S. 282)
  • [2] Mit Georg Breidenstein (2006) ließe sich dieses Verhalten als Teil des instrumentellen Verhältnisses aller Akteure zum Geschehen Unterricht deuten. Unterricht ist immer auch ein System, das nicht in jeder Situation seine pädagogische Sinnhaftigkeit legitimieren kann und dennoch entgegen aller auftauchenden Aporien fortgesetzt wird
 
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