Die Ordnung des Schulunterrichts und die Vielfalt pädagogischer Formen

Wir haben im Vorangegangenen versucht, die Leistungsfähigkeit einer systemtheoretischen Heuristik für die Aufklärung der sozialen und pädagogischen Ordnungsbildung im Schulunterricht zu verdeutlichen. Dabei sind wir zunächst vom Bezugsproblem einer Differenz zwischen Lehren und Lernen ausgegangen. Diese Differenz lässt sich weder durch den Einsatz von Lerntechniken noch durch didaktische Planung dauerhaft schließen, vielmehr kommen im Unterricht unterschiedliche Ermöglichungsformen zum Einsatz, mit denen versucht wird, die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung je situativ zu überbrücken bzw die auf der Ebene der Kommunikation sichtbare Aneignung der Schüler/innen zu bestimmen.

Den Einsatz dieser Ermöglichungsformen kann man unserer Meinung nach besonders deutlich an denjenigen Stellen des Unterrichts beobachten, an denen bestimmte Kommunikationen explizit als inkonsistent zu den vorausgesetzten Erwartungen markiert werden. Immer dann, wenn im Kommunikationssystem Unterricht Grenzen explizit thematisiert werden, wird eine Abweichung von den herrschenden Erwartungen angezeigt, was ein Indiz dafür ist, dass doppelte Kontingenz und fehlende Kausalität für den Fortgang der Kommunikation zu einem Problem zu werden drohen. Die in diesen Situationen zum Einsatz kommenden Ermöglichungsformen weisen – das haben bereits die wenigen hier analysierten Sequenzen gezeigt – eine beträchtliche Varianz auf, die sich wiederum nach den drei Sinndimensionen in je unterschiedlicher Weise ausprägen. In diesen Konstellationen konnten verschiedene kommunikative Muster rekonstruiert werden, in denen wiederum eine je unterschiedliche pädagogische Normativität aktualisiert wird.

Die Normativität der Eingangsszene dieses Unterrichts liegt unmittelbar zu Tage. Sie zeigt sich darin, dass den Schülern deutlich gemacht wird, dass die von der Lehrperson beobachtete körperliche Gewalt im Klassenzimmer unerwünscht ist. Diese Markierung von Inkonsistenz wird allerdings in einem ganz bestimmten Modus vollzogen. Zunächst evoziert schon der wortlose Blick der Lehrerin auf das Kampfgeschehen bei den auf ihren Plätzen gebliebenen Schülern einen Ausdruck von Inkonsistenz. Sie machen durch ihre vor den Mund gehaltenen Hände das vermeintlich ‚Unerhörte' dieser Situation deutlich. Dieser auf der Ebene der Gestenkommunikation erfolgte Markierung von Inkonsistenz wird nun gleichsam wieder

‚geheilt', wenn Edi trotz seines Regelbruchs mit einer stützend-versöhnlichen Geste gezeigt wird, dass er weiterhin Teil der Klassengemeinschaft ist. Dies kann aber nur gelingen, wenn Edi sich auf das Angebot und den darin zum Ausdruck kommenden Vertrauensvorschuss seiner Lehrerin einlässt und sich bei ihr unterhakt. Kooperationsund Aufmerksamkeitsbereitschaft werden durch den Modus der Führung und des ‚Sich-Führen-Lassens' als allgemeine Verhaltenserwartungen aufgerufen und überführen die Kommunikation in eine auf die Lehrerin fokussierte Form.

Dem gemeinsamen Gang zum Lehrerpult folgt die explizit-verbale Markierung von Inkonsistenz von Seiten der Lehrerin. Dieser Markierung wird im Folgenden dann aber in mehrfacher Hinsicht ihre disziplinierende Schärfe genommen. Zunächst wird mit der Adressierung „Meine Herren“ die Verantwortung für den Regelbruch nicht einem einzelnen Schüler, sondern einer männlichen Schülergruppe kollektiv zugeschrieben. Mit dem Hinweis auf eine persönliche Präferenz („mir wäre es lieber“) schwächt die Pädagogin die Markierung von Inkonsistenz ein weiteres Mal ab. Sie artikuliert ihre Positionierung zum Verhalten der Schüler als persönliche Vorliebe und zeigt sich – zumindest auf der sprachlich-expliziten Ebene – nicht als Vertreterin der Organisation Schule. Zudem bleibt diese Markierung von Inkonsistenz nur eine kurze Episode [1], die von der weiteren Kommunikation durch keinen der Anwesenden nochmals aufgegriffen wird. Die von der Lehrerin praktizierte Adressierung wird auf der anderen Seite von einem ‚Geburtstagsständchen' überlagert, mit dem die Schüler ihrerseits deutlich machen, dass sie sich für die Privatperson hinter der Rollenträgerin interessieren. Beide Seiten machen sich also auf der Ebene der Kommunikation als Personen mit ihren privaten Vorlieben kenntlich und zeigen damit an, dass man bereit ist, den Gegenüber über seine Eigenschaft als Inhaber einer Funktionsrolle hinaus zu würdigen [2].

Führung und Stützung eines Schülers nach einem Regelbruch, das kommunikativen Markieren einer vertrauensvollen Beziehung und das Sich Zeigen als ganzer Mensch sind spätestens seit dem 20. Jahrhundert geläufige Bestandteile der pädagogischen Semantik. Sie zeigen sich entlang der drei Sinndimensionen bereits in dieser kurzen Eingangsszene und weisen diese als Verkörperung einer pädagogischen Ordnung aus, die sich in dieser spezifischen Kombination vermutlich in keinem anderen Funktionssystem der modernen Gesellschaft wiederfindet. Möglicherweise wird man nicht bereit sein, die Merkmale dieser pädagogischen Ordnung auf die Schule zu begrenzen, könnten sie doch vermutlich in einem Jugendclub genauso vorkommen wie in einer Kindertagesstätte.

Bereits an dieser Eingangsszene wird zudem deutlich, dass der Markierung von Inkonsistenz durch die nachfolgenden Kommunikationen eine ganz bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird, die der hier rekonstruierten pädagogischen Ordnung erst ihre spezifische Kontur gibt. Erzieherische Absichten werden zwar meist von den Lehrpersonen geäußert, sie gewinnen ihre Valenz aber erst durch die Folgekommunikationen. Diese Überlegung macht einmal mehr deutlich, dass Schulunterricht nicht handlungstheoretisch bzw. als die Umsetzung der Absichten eines Lehrers begriffen werden kann (vgl. Herzog 2002, S. 389ff.; Meseth et al. 2012). Das Emergenzpotential der pädagogischen Kommunikation übersteigt nicht nur beständig die Absichten der Anwesenden, sondern auch deren je situationelle

‚awareness'. Erst eine Theorie des Schulunterrichts, die diese Trennung zwischen Bewusstsein und Kommunikation zu ihrem Ausgangspunkt macht, kann unserer Meinung nach dem Geschehen im Klassenzimmer gerecht werden.

Die für den Schulunterricht typischen Merkmale treten dann konturierter hervor, wenn die zu lernende Sache thematisiert wird. Nun werden klare Leistungsanforderungen formuliert, an denen die Schüler sich und ihre Klassenkameraden messen können. Die Absicht, was an der Sache gelernt werden soll, wird explizit formuliert und durch Verschriftlichung der Flüchtigkeit des kommunikativen Geschehens entzogen. Der in der Vergangenheit erreichte Stand des Wissens wird in einer Re-Aktualisierung der vorangegangenen Stunde klassenöffentlich gemacht und auf die Seite der Kommunikation gezogen (vgl. Proske 2009). Dabei reicht es offenbar nicht aus, dass dieses Wissen nur benannt wird, sondern mit seiner Re-Aktualisierung wird zugleich ein bestimmter Modus des Verstehens eingeübt. Um dieses Verstehen zu initiieren, wird eine der pädagogischen Tradition seit langem bekannte Gesprächstechnik [3] eingesetzt, in der die vielgescholtene Lehrerfrage im Mittelpunkt steht. Die Funktion dieser Frage – die heute meist dem Kommunikationsformat des fragend-entwickelnden Unterrichts zugeordnet wird (vgl. Becker-Mrotzek und Vogt 2009, S. 77ff.) – hat Jürgen Henningsen (1978) einmal mit einem „Korkenzieher“ (ebd., S. 58) verglichen. Die zu lernende Sache liegt bereits fest und die Fragen haben die Aufgabe, das zu Wissende aus den Schülern wie ein Korken aus der Flasche herauszuziehen. Diese Form zu fragen „fragt“ nicht im eigentlichen Sinne,

„sondern zerlegt, gliedert und erinnert an die Einzelportionen des Geschluckten und wieder Herauszuholenden“ (ebd.). Trotz ihres repetitiven Charakters verlangt diese Fragetechnik den Schülern dennoch ein gewisses Maß an eigenständiger Leistung ab. Im oben analysierten Fall muss das im Film Gezeigte in die ‚richtigen' Unterscheidungen eingeordnet werden, um so zu zeigen, dass man das Gesehene in einer gesellschaftlich akzeptablen Weise kontextuieren kann. Die Lehrerin auf der einen Seite darf diese Unterscheidungen den Schülern nicht einfach vorsagen, sondern muss mit mehr oder weniger geschickten Aufforderungen, Nachfragen und Ergänzungen die Schüler auf die Spur zur richtigen Antwort führen. Die Schüler wiederum müssen ‚erraten', was ihre Lehrerin von ihnen wissen will. Ob sie mit ihrem Verstehen auf der richtigen Spur sind, zeigt sich dann für sie an der dritten Sequenzstelle des schulunterrichtstypischen Kommunikationsmusters „Eröffnung

– „Schüler-Antwort“ – „Rückmeldung (feed-back)“ (Sinclair/Coulthard 1977, S. 50; Herv. im Orig.). An der ‚Feed-back-Funktion' der unterrichtlichen Kommunikation ist sowohl für den individuellen Schüler – der gerade befragt wird – als auch für das Kollektiv der restlichen Schüler ablesbar, was als ‚richtige' Deutung zu gelten hat (Sachdimension) und welche Richtung die Unterrichtskommunikation im Fortgang einschlagen soll (Zeitdimension).

Damit wird deutlich, dass dieses Kommunikationsschema nicht nur ein Regelungsmechanismus des unterrichtlichen Sprachspiels darstellt (vgl. Lüders 2003). Vielmehr wird in der Sachdimension der zu lernende Gegenstand beständig als ergänzungsbedürftig markiert und so über sich selbst hinausgetrieben (vgl. Meseth et al. 2011, S. 238). Das Einüben eines Interpretationsmusters erweist sich so – das hatte die avancierte pädagogische Semantik zum Thema des Übens schon immer gewusst – als eine komplexe Integration der drei Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Brinkmann 2012, S. 27ff.). Ein bereits gelerntes Wissen wird in der Gegenwart aktualisiert und zugleich in seinen in der Zukunft noch zu behebenden Defiziten dargestellt. Dass im Zuge der Anwendung dieses Kommunikationsmusters das lernende Subjekt zu Gunsten der klassenöffentlichen Darstellung der ‚richtigen' Deutung instrumentalisiert wird, lässt sich vermutlich unter den Bedingungen des modernen Massenunterrichts nicht vermeiden (vgl. Meseth et al. 2011, S. 238) [4].

Diese Einübung einer Interpretationstechnik und die schriftliche Fixierung der pädagogischen Intention kann dann allerdings dazu führen, dass die Absicht der Lehrerin ‚gegenbeobachtet' wird. Das didaktische Arrangement wird, ja muss sogar von den Schülern beständig auf seine Applizierbarkeit getestet werden. Diese Gegenbeobachtung kann dann eine Inkonsistenz zwischen der Absicht und der Realisierung des didaktischen Programms zu Tage fördern, womit die Vermittelbarkeit des Unterrichtsgegenstandes in Gefahr gerät. Dieser Bedrohung wird im vorliegenden Fall allerdings durch eine ‚ad hoc' Entscheidung der Lehrerin entgegengewirkt. Sie setzt ihre ursprüngliche didaktische Absicht situativ außer Kraft und fährt mit dem Unterricht fort. Eine solche Verschiebung eines Konflikts aus der Sachin die Zeitdimension ist eine Strategie, die wir in unseren Forschungen zur Kommunikation im Geschichtsund Ethikunterricht immer wieder beobachtet haben (vgl. Meseth et al. 2012).

Wie kann man nun mit Blick auf diese Befunde, die eingangs gestellte Frage

„Was ist (Schul-)unterricht“ beantworten? Allein aufgrund der Vielfalt der hier analysierten Kommunikationsmuster scheint es unsinnig zu sein, das kommunikative Geschehen, das man gemeinhin als Schulunterricht bezeichnet, in eine knappe Definition zu pressen. Dafür nimmt die Ordnungsbildung des Unterrichts zu viele unterschiedliche Formen des Pädagogischen in Anspruch. Insofern führt der Versuch, die Frage „Was ist (Schul)unterricht“ direkt zu beantworten, unserer Meinung nach – wie übrigens bei anderen sozialen Phänomenen auch – in eine ontologische Sackgasse. Vielmehr scheint Unterricht unterschiedliche Kommunikationsformen auszudifferenzieren, denen gemeinsam ist, dass sie Formbildungen im Medium des Pädagogischen sind. Von daher scheint es aussichtsreicher, Unterricht als ein Kompositum unterschiedlicher Formen pädagogischer Kommunikation zu fassen, die man entlang der vorliegenden pädagogischen Semantik als „Stützung“, „Führung“, „Disziplinieren“, „Üben“, „Hilfe“, „Fordern“, „Zeigen“, „Darstellen“, „Auffordern“, „Bewerten“ und „Prüfen“ bezeichnen kann und die sich im Unterricht in je spezifischen Konstellationen zeigen.

  • [1] Zur Struktur des episodischen Charakters von Widersprüchen und Konflikten im Vergleich zur Ausdifferenzierung eines Konflikts über einen längeren Zeitraum auf der Sachebene (beispielsweise in einer Fernsehtalkshow) vgl. Messmer 2013, S. 137ff
  • [2] In der Systemtheorie werden Personen als „Konstrukte“ (Luhmann 2002, S. 30) gefasst, die den ganzen ‚Menschen' (als körperliches und psychisches System) in der Kommunikation adressierbar machen. Der Rekurs auf Personen wird dann in den verschiedenen Funktionssystemen in unterschiedlicher Tiefenschärfe praktiziert. Während sich die Kommunikation in Familien nahezu ausschließlich an dem Konstrukt ‚Person' orientiert, spielt diese Form der Adressierung in Organisationen eine vergleichsweise geringe Rolle (vgl. Luhmann 1990, S. 213ff.)
  • [3] Diesbezügliche Mitschriften aus dem Unterricht finden sich in Henningsen 1978 oder Petrat 1979
  • [4] Hier wäre die Frage zu diskutieren, inwieweit sich die Pädagogizität des Schulunterrichts im einundzwanzigsten Jahrhundert von den am Hauslehrerprinzip abgelesenen emphatischen Bildungsbegriff so weit entfernt hat, so dass dieser nicht mehr auf das lernende Individuum, sondern allenfalls auf den Unterrichtsprozess als Ganzem bezogen werden kann (vgl. ebd., S. 239)
 
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