Tipps

Tipps zu geben und zu bekommen stellt im Unterricht eine routinierte Praxis dar. Schüler bekommen oft Tipps sowohl von Lehrern als auch von Mitschülern. Von Interesse ist dabei die unterschiedliche Art und Weise, wie die Tipps produziert werden und wie die Schüler mit ihnen umgehen. Nicht alle Angebote werden angenommen – so unsere Beobachtung – insofern nicht allen Tipps dieselbe Funktion zukommt. Wenn dies so ist, dann stellt sich die Frage: Woran orientiert man sich beim Geben oder Befolgen eines Tipps? Oder anders formuliert: Worin besteht die situative Arbeit der Produktion von Tipps, die den Umgang damit im Unterricht spezifiziert? Vergleichen wir zuerst die folgenden zwei Fragmente:

#8#

328 Bela: Und der Mann is dann am Ende bei der Brücke runtergesprungen und die -

329 Lw: Warum? (.) Net aus j

Spaß, sondern ...

330 Bela: Aus Angst vor den (..) ähm ...

331 Lw: Verfolgern, t

332 Bela: Ja.

333 Lw: sagen wir jetzt amal neutral, Verfolgern, ja. [1 Und?

334 Bela: [1 Und die Verfolger ham dann in's Wasser g'schossen.

#9#

337 Lw: Ja, aber warum haben sie ihn verfolgt? j

t

Edi

338 (.)

339 Bela: Ach so, ähm weil er ahm (..) 340 Lw: Wahrscheinlich was war? 341 jVeit (...)

342 Leon: > {leise zu Bela:} Nazi. < j

343 Bela: Ähm, Nazi.

344 {SS lachen, auch Bela} jIngo tIngo

345 Lw: Ich glaub nicht, dass die Nationalsozialisten einen Nazi verfolgen. {zeigt auf

346 Bert}

347 S?: Hallo, Frau Professor! j

348 Bert: t

Ah, ein Jude. t

349 Lw: Ein Jude.

In beiden Fällen bekommt einer der Schüler, Bela, der von der Lehrerin als Nächster aufgefordert wird, den Inhalt der angeschauten Filmszenen wiederzugeben, und dem es schwer fällt, die Fragen der Lehrerin zu beantworten, Tipps: Im ersten Fall von der Lehrerin, im zweiten von einem Mitschüler. Zwar folgt er in beiden Fällen den gegebenen Tipps, doch hat dies verschiedene Wirkungen auf den weiteren Interaktionsablauf.

Charakteristischer Weise entfaltet sich die Interaktion in beiden Szenen gemäß der dreiteiligen „Initiation–Reply–Evaluation“–Struktur (IRE-Struktur) [1]. Sie realisiert sich im für den Unterricht konstitutiven Modus der Wissensasymmetrie. Die Besonderheit der Szene besteht dabei darin, dass die Lehrerin nicht nur die Fragen initiiert und – im dritten Schritt – die Richtigkeit der Antworten des Schülers bestätigt (die bewertende Funktion ihrer Kommentare tritt am anschaulichsten im zweiten Beispiel auf, Z. 345-349), sondern dass sie ihre Fragen im suggestiven Modus formuliert, so dass die Fragen selbst als Tipps verstanden werden können. Die Frage im Beispiel #8# „Warum? Net aus Spaß, sondern...“ beinhaltet schon teilweise die Antwort, indem sie einerseits die Form der richtigen Antwort anbietet und andererseits die falsche Antwort benennt [2]. Der Schüler folgt der Richtung und bekommt wiederum einen Tipp von der Lehrerin, der die richtige Antwort vervollständigt (Z. 330-333). Die Annahme des Tippangebots funktioniert hier nicht nur dadurch unproblematisch, dass das Tippangebot von der Person kommt, der infolge ihrer institutionellen Position der Status der Wissenden zugeschrieben werden kann, sondern auch dadurch, dass die sequenzielle Organisation von Fragen und Antworten in der transparenten, eindeutigen Logik der Hilfeleistungv konstituiert wird. Die suggestiven Fragen und Tipps der Lehrerin werden als Hilfe formuliert und verstanden.

Im Vergleich dazu unterscheidet sich die Situation im Beispiel #9# offensichtlich von der des Hilfe-Gebens [3]. Das Tippangebot kommt hier von einem der Mitschüler und führt zu einer falschen Antwort (Z. 342-345). Bemerkenswert ist hier aber nicht die Tatsache, dass sich Tipps der Mitschüler als unzutreffend erweisen können, insofern derjenige, der den Tipp gibt, demjenigen, der diesem Tipp folgt, an Kenntnissen bzw. sachlicher Kompetenz nicht unbedingt überlegen sein muss. Die kennzeichnende Besonderheit der Szene besteht darin, dass der Tipp hier anscheinend vorsätzlich ‚falsch' formuliert wird. Leon, der Bela vorsagt, die Antwort der Lehrerin mit „Nazi“ zu beantworten, bringt diesen dazu, etwas Unsinniges zu äußern: Die Nationalsozialisten verfolgen einen Nazi. Dass Leons Tipp irreführend ist, erkennen die anderen Schüler noch bevor die Lehrerin ihren Kommentar abgibt (Z. 345). Die Klasse lacht (Z. 344). Bela, der mitlacht (allerdings ein paar Sekunden später als die anderen), zeigt damit nicht nur, dass er auch versteht (jetzt, wo die anderen lachen?), etwas Unsinniges gesagt zu haben, sondern auch dass dies offensichtlich unsinnig ist – sodass er selber mitlachen kann.

Der Tipp eines anderen Schülers im Beispiel unten folgt einer ähnlichen Logik wie der von Leon:

#10#

357 Edi: Ja, sie waren ängstlich (wor'n).

358 Lw: Sie waren ängstlich, sie waren entsetzt. Sie waren was noch?

359 Tom?: Traurig.

360 Lw: Ja, traurig. (.) Und? 361 (..)

362 S?: > {sehr leise:} Glücklich. < 363 {SS lachen}

364 Edi: Ähm ...

365 Lw: Und dann, was is dann passiert?

Die Evidenz, dass der Tipp in der Zeile 362 vorsätzlich falsch formuliert wurde, tritt hier noch deutlicher hervor, sodass man sofort lacht, ohne abzuwarten, ob Edi, von dem die Antwort erwartet wird, dem Tipp folgt oder nicht. In der Tat lässt sich Edi nicht darauf ein, dem Tipp zu folgen und damit zu behaupten, jemand sei gleichzeitig „traurig“ und „glücklich“ (Z. 364).

Vorsätzlich ‚falsch' formulierte Tipps haben – zumindest in den hier betrachteten Fällen – weder mit Kooperation noch mit Konkurrenz zu tun. Der Schüler, der einen ‚falschen' Tipp gibt, – im Beispiel #9# ist es Leon, im Beispiel #10# lässt sich der Tippgeber nicht identifizieren, so leise wird gesprochen – wird weder aufgerufen, noch meldet er sich selbst. Offensichtlich wird mit dieser Art Tipps nicht angestrebt, selbst das Wort zu ergreifen und seine eigenen, im Vergleich zum Mitschüler besseren Kenntnisse zu zeigen. Das Formulieren eines vorsätzlich

‚falschen' Tipps wird eher als Anlass zum Scherzen betrachtet und wird zu einem Scherz, auch wenn man – wie im letzten Beispiel – dem Tipp nicht folgt. Es geht in diesen Beispielen wohl auch um ein Spiel mit der Routine der IRE-Struktur: Man verletzt bewusst und für einen Moment das „Arbeitsinterim“, dass Schüler im Rahmen des fragend-entwickelnden Unterrichts nach besten Kräften versuchen herauszubekommen, was der Lehrer hören will (die „richtige Antwort“) (vgl. Voigt 1984), indem man dem Mitschüler eine offensichtlich falsche Antwort vorschlägt. Das gemeinsame Lachen repariert diesen kleinen Verstoß gegen die Arbeitsgrundlage des Unterrichtsgesprächs, indem es anzeigt, dass es nicht ernst gemeint war. Die Routinen in der kooperativen Handhabung des Unterrichtsgesprächs können sich soweit verselbständigen, dass es der Instruktion oder der Frage der Lehrerin gar nicht mehr bedarf. Die Schüler wissen schon, was sie sagen wird. Zwei kleine Beispiele für dieses Phänomen:

#11#

135 Lw: Und nehmt die Hefte heraus, bitte. >1 {SS holen ihre

136 Unterlagen heraus} Um euch (..)

137 S?: Notizen machen.

138 Lw: Notizen zu machen.

#12n#

303 Lw: Weil die Musik aus welcher-

304 Arne: Aus Amerika.

Im ersten Fall formuliert einer der Schüler für die Lehrerin das, was sie gerade sagen will, im zweiten Fall gibt ein anderer Schüler die Antwort, obwohl die Formulierung der Frage von der Lehrerin noch nicht komplett abgeschlossen ist. Die Schüler wissen präzise und wörtlich, was die Lehrerin sagen wird. Mehr noch: sie wissen es – um mit Garfinkel (2002a, S. 225) zu sprechen – „in normally thoughtless ways“.

  • [1] Die „Initiation–Reply–Evaluation“–Struktur (IRE-Struktur) weist darauf hin, dass die Lehr-Lern-Interaktion durch ein spezifisches System des Sprecherwechsels gekennzeichnet ist: Frage (des Lehrers) – Antwort (des Lernenden) – Bewertung (des Lehrers). Die verschiedenen Aspekte der IRE-Struktur wurden in einer ganzen Reihe von Arbeiten untersucht (vgl. McHoul 1978; Mehan 1979; Heap 1985; Lerner 1995; Kalthoff 1995; Nassaji und Wells 2000; Hellermann 2005; Lee 2007). Den erwähnten Arbeiten zufolge lässt sich diese dreiteilige IRE-Struktur als konstitutiver Mechanismus der Organisation der Interaktionsordnung im Unterricht und der Interaktionsgliederung in einzelne Episoden auffassen
  • [2] Kalthoff (1995) diskutiert diese Praxis als „fremdinitiierte Selbstkorrektur
  • [3] Zur Analyse der Situationen des Helfens zwischen Schülerinnen und Schülern siehe Breidenstein 2006, S. 194-201
 
< Zurück   INHALT   Weiter >