Einleitung
Wer versucht, sich einen Überblick über die Geschichte der Weltwirtschaft zu verschaffen, wird schnell auf einen fundamentalen Sachverhalt stoßen, der dieser Geschichte seinen Stempel aufgedrückt hat. Trotz bedeutsamer technischer Neuerungen wie z. B. die Eisengewinnung, die Verwendung schwerer Metallpflüge und der Bau von Wassermühlen, war die Wirtschaftsgeschichte über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, nicht von kontinuierlicher Verbesserung, sondern von einem ständigen Auf und Ab der Lebensumstände breiter Schichten der Bevölkerung geprägt. Gute Zeiten wechselten sich mit schlechten ab, ohne dass es zu einer durchgreifenden und anhaltenden Verbesserung der Lebensumstände gekommen wäre. Das ändert sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Eintritt erst Englands, dann anderer europäischer Staaten und ihrer überseeischen Abkömmlinge in die Epoche des modernen wirtschaftlichen Wachstums (Kuznets 1973). In der wirtschaftshistorischen Forschung hat diese Epoche verschiedene Bezeichnungen erhalten. Autoren, welche technische Neuerungen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, erblicken in ihr die von der Industriellen Revolution eingeläutete Epoche (z. B. Clark 2007). Andere Wirtschaftshistoriker legen stärkeres Gewicht auf institutionelle Änderungen, vor allem die Sicherung von Privateigentumsrechten (North und Thomas 1973) und die Etablierung eines Systems von Warenmärkten. Auf Marx (1867) geht der Gedanke zurück, dass die grundlegende Neuerung unzureichend begriffen wäre, wenn sie auf Eigentumsrechte und Warenhandel reduziert würde. Entscheidend ist vielmehr die Durchsetzung und Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie baut auf Eigentumsrechten und Warenmärkten auf. Dieser Sicht schließe ich mich an. Die Epoche des modernen wirtschaftlichen Wachstums ist die Epoche des modernen Kapitalismus.
Unter letzterem Begriff verstehe ich mit Karl Marx und Max Weber eine Ordnung der Wirtschaft, deren zentrales Merkmal darin besteht, dass die Eigentümer von Produktionsmitteln in Produktionsprozessen beliebiger Art die Arbeitskraft von Personen, die kein solches Eigentum besitzen, mit dem Ziel verwenden, die Ergebnisse der Produktion gewinnbringend auf Märkten abzusetzen. Eine solche Ordnung stellt eine revolutionäre Neuerung dar. In der Produktion begegnen sich zwei hinsichtlich ihrer „Stellung im Produktionsprozess“ völlig verschiedene, in ihren Interessen sogar, wie Marx meinte, diametral entgegengesetzte Personengruppen: Die kleine Gruppe der Inhaber der Produktionsmittel, denen – oder deren Beauftragten – die Aufgabe obliegt, die Produktion zu organisieren, und die große Gruppe der abhängig Beschäftigten, die nichts besitzen als ihre eigene Arbeitskraft und die daher zur Fristung ihres Lebensunterhalts ganz und gar darauf angewiesen sind, eine Anstellung in einer kapitalistischen Unternehmung zu finden. Man kann sich leicht vorstellen, dass eine Ordnung, welche im Zentrum der Schaffung des gesellschaftlichen Reichtums zwei Personengruppen zusammenbindet, die antagonistische Interessen verfolgen, einen enormen gesellschaftlichen Zündstoff birgt. Umso verwunderlicher ist es daher, dass sich diese Ordnung trotz vielfältiger Krisen nicht nur in ihren Ursprungsländern als erstaunlich stabil erwiesen hat, sondern darüber hinaus spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Siegeszug um die ganze Welt angetreten hat.
Ursächlich hierfür ist die schwerlich zu bestreitende Tatsache, dass diese Wirtschaftsordnung wie keine andere dazu in der Lage ist, die Lebensumstände der dieser Ordnung unterworfenen Bevölkerung durchgreifend zu verbessern. „The Escape from Hunger and Premature Death, 1700–2100“, auf diesen Nenner bringt Robert William Fogel (2004) die Essenz der kapitalistischen Entwicklung. Großen und noch weiter zunehmenden Teilen der Menschheit gelang es, Hunger und frühem Tod zu entkommen, weil eine ständig wachsende Wirtschaft auch bei ungleicher Verteilung ihrer Ergebnisse die Mittel bereitstellte, die Bevölkerung nicht nur mit den Gütern des täglichen Bedarfs, sondern auch mit Gesundheits- und Bildungsgütern zu versorgen. Allerdings gibt es keinerlei Garantie dafür, dass die kapitalistische Expansion, die das Gesicht der Erde verändert hat, immer weiter vorangeht. Es könnte durchaus sein, dass mit dem 21. Jahrhundert (wie im Titel des Buchs von Fogel angedeutet), auch die kapitalistische Expansion an ihr Ende kommt und – sei es aus inneren, in der Logik der Reichtumsproduktion liegenden Gründen, sei es aus äußeren, im Verbrauch natürlicher Ressourcen liegenden – in eine Phase der Stagnation eintritt. Jedenfalls ist es schwer vorstellbar, dass die Erde genügend Platz für den für die jüngste Vergangenheit der kapitalistischen Entwicklung typischen Lebensstil bietet, wenn alle Länder der Welt von diesem Lebensstil ergriffen werden.
Nicht nur aus diesem Grund, sondern vor allem auch wegen befremdlicher Auswirkungen der neuen Produktionsweise auf die individuelle Lebensführung einerseits und das Zusammenleben in Gemeinschaften wie Familie und Staat andererseits wurde die Entstehung und die Expansion dieser Ordnung von Anfang an von einer grundsätzlichen Kritik begleitet, welche ihre Nachteile für weit schwerwiegender einschätzt als ihre doch auch unbestreitbaren Vorteile und die sich daher die Erlösung von den Übeln dieser Ordnung nur in einer Wirtschaft und Gesellschaft jenseits des Kapitalismus vorstellen kann.
Ich gehe im Folgenden so vor, dass ich zunächst einmal die zentralen Eigenschaften eines kapitalistischen Wirtschaftssystems herausstelle und sowohl seine Leistungsfähigkeit als auch seine Problematik beleuchte (Kapitel 2). Ein solches System ist kein „fester Kristall“ (Marx 1968, S. 16), sondern ein außerordentlich wandlungsfähiges Gebilde. Nach einem kurzen Blick auf den Gestaltwandel des Kapitalismus (Kapitel 3) wende ich mich der Kritik an diesem Wirtschaftssystem zu (Kapitel 4). So facettenreich diese Kritik auch ist, sie hat es nicht vermocht, eine wirklich plausible Alternative zu konzipieren. Der Beitrag schließt mit der Frage, ob es eine überzeugende Alternative gibt und ob die Menschheit mit diesem Wirtschaftssystem wird leben müssen (Kapitel 5).