Rekonstruktion von Unterricht als Rekonstruktion von Adressierungsakten
Innerhalb des qualitativen Forschungsparadigmas im Allgemeinen und in der Unterrichtsforschung im Besonderen mit seiner grundlegenden Annahme einer sinnhaften Konstitution sozialer Welt (vgl. Schütz 1974; auch Schütz und Luckmann 1975 und 1984) wird mittels bestimmter methodisch abgesicherter Vorgehensweisen versucht, Sinnund Bedeutungsarchitekturen sozialen Geschehens sowie ihre Entstehungskontexte, Transformationen und Ordnungen zu rekonstruieren. Sinn wird in hermeneutisch-interpretativen Ansätzen als etwas Prozessuales aufgefasst, indem auf etwas – beispielsweise auf einen Sprechakt oder eine körperliche Aktion – eine Reaktion in Form einer Antwort erfolgt und hierdurch aus einer Vielzahl möglicher Reaktionen eine spezielle, spezifische Auswahl getroffen und damit ein sinnhaftes Geschehen geformt wird. In der Reaktion auf eine Aktion werden bestimmte Anschlüsse realisiert, andere mögliche Anschlüsse verbleiben nicht realisiert. Sie nun wiederum ermöglichen, über gedankenexperimentelle Kontrastierungen mit ihnen in sequentiell vorgehenden Interpretationsverfahren, ein genaueres Verständnis der realisierten Sinnhaftigkeit in einer Situation. Die Regelhaftigkeit von Sinnstrukturen lässt sich entweder in einer Oevermannschen Perspektive als eine der Handlungspraxis vorgängige und damit diese generierend begreifen (vgl. Wernet 2000, S. 15) oder anschließend an Schatzkis praxistheoretische Lesart des Wittgenstein`schen Sprachspiel-Begriffes (vgl. Wittgenstein 2003, S. 16) und seiner Konzeption von Regeln und regelhaftem Handeln (vgl. Savigny 1996,
S. 94ff.; Wittgenstein 2003, S. 131ff.; Gebauer 2009, S. 124ff.) als zwar existent und analysierbar, aber weder als determinierend noch auch nur als hervorbringend, weil Tun nicht als ein Anwenden von Regeln verstanden wird.
Diese voneinander abweichenden sozialtheoretischen Annahmen qualitativ ausgerichteter Unterrichtsforschung lassen verschiedene Perspektiven auf Unterricht, die dort zu vermittelnde ‚Sache' und die beteiligten Akteure zu. So wird der Blick entweder auf das Beschreiben und Rekonstruieren von Prozessen der Ko-Konstruktion bzw. der Generierung oder Änderung von Sinnund Bedeutungsstrukturen eines auf eine ‚Sache' bezogenen Unterrichtsgeschehens durch mehrere Beteiligte gerichtet oder es werden komplexe pädagogische Ordnungen in verschiedenen Unterrichtsarrangements sowie deren Herstellungsprozesse fokussiert. Es lassen sich aber auch das pädagogische und didaktische Handeln oder (unterrichtliche) Praktiken von Lehrer_innen beschreiben und rekonstruieren oder Lernoder Bildungsprozesse einzelner Schüler_innen identifizieren (vgl. Reh und Rabenstein 2013, S. 293f.).
Während die Analysen von Unterricht als komplexe Ordnung oftmals die ‚Sache' des Unterrichts aus dem Blick verlieren (vgl. z. B. Fritzsche et al. 2011; Breidenstein 2012; Reh 2013; Reh und Rabenstein 2012) und in der angeführten anderen, didaktischen Perspektive Bildung im Sinne der ,Ermöglichung subjektiver Autonomie' in der Beschäftigung mit der ‚Sache' im Unterricht strukturell nicht denkbar erscheint, weil Unterricht gerade die ‚Sache' nicht in ihrem vollen Umfange, zu ihrem vollen Recht kommen lässt, soll die Analyseperspektive der Autorinnen etwas anderes erlauben. Sie soll es erlauben, den Zusammenhang von – in anderer Terminologie gesprochen – didaktischen und erzieherischen Aspekten, den Zusammenhang im Moment seiner Produktion, in der Gleichzeitigkeit des Zeigens und Adressierens und der darauf erfolgenden Reaktion, zu beobachten und zu rekonstruieren. Es soll im Folgenden darum gehen, Differenzen des Wissens – also dem unhintergehbaren Charakteristikum von (Fach-)Unterricht –, die historisch-spezifische Produktion dieser Differenzen und die fachlichen Adressierungen der Schüler_innen im Unterricht zu analysieren.
Unterstellt sind nun damit zwei Dinge, die aber hier nicht näher ausgeführt werden können (vgl. dazu Reh und Ricken 2012). Zum einen finden Adressierungen im Rahmen von Praktiken, auch von unterrichtlichen Praktiken, statt und zum anderen sind sie zentrales Moment von in Praktiken erfolgenden Subjektivierungen. Während Menschen Praktiken als Beteiligte erlernen, indem sie Praktiken selbst ausführen, mittun oder nachtun, entwickeln sie dadurch Kenntnisse über und eine Geschicklichkeit im Umgang mit einer ‚Sache', verinnerlichen', internalisieren oder inkorporieren praktisches Wissen [1], differenzieren ihre Sinne und bilden bestimmte Affektund Motivstrukturen aus. Subjektkonstitution ist auf diese Weise nicht nur mit Praktiken verbunden, sondern ihnen inhärent und sie erfolgt einerseits als Einnahme von mit den Praktiken implizierten Subjektpositionen (vgl. Reckwitz 2008, S. 141) wie andererseits darüber, dass in den Praktiken die Einzelnen in einem materialen, körperlichen, ereignishaften bzw. situativen Geschehen als je Besondere adressiert werden. Zu diesem Prozess gehören sowohl Unterwerfungen unter jeweilige soziale Ordnungen als auch Überschreitungen und Überschreibungen derselben. Subjektivierung resultiert aus der Verwicklung Einzelner in Praktiken und meint daher eine praktische und nicht nur reflexive Auseinandersetzung mit kulturell repräsentierten Subjektformen. Ein zentraler, oft übersehener Unterschied ist der zwischen den – zumeist diskursiv verfügbaren – Subjektrepräsentationen im Sinne kulturell verfügbarer Subjektformen und der sich immer wiederholenden Subjektivierung konkreter Einzelner in Situationen, hier in Praktiken des Unterrichts. Letzteres kann zunächst – und nur dieses – in Interaktionstranskripten oder in Unterrichtsvideographien analysiert werden. Wir gehen allerdings davon aus, dass sich in immer historisch spezifischen, Wissens-Differenz konstituierenden Praktiken und darin erfolgenden Adressierungen des Fachunterrichts Muster herausbilden und diese als kulturelle den Rahmen dessen setzen, zu was oder wem die Teilnehmer_innen am Fachunterricht vor der und mit der ‚Sache' im Konkreten werden. Um solche Muster nicht nur materialreich zu eruieren, also kontrastierend verschiedene Geschichtsstunden zu untersuchen, sondern sie auch in einem historischen Zusammenhang situieren zu können und ihr Erscheinen in diesem verstehbar zu machen, wäre es sinnvoll, auch die diskursiven Kontexte, also pädagogisierende Legitimationsund Rationalisierungsdiskurse wie etwa fachdidaktische Programmatiken und Konzepte zu rekonstruieren.
In den Mittelpunkt der folgenden Analyse gerückt ist der Zusammenhang zwischen der Vermittlung einer ‚Sache', mit Klaus Prange gesprochen dem Zeigen einer ‚Sache' (vgl. Prange 2005), das sich auf das Lernen von jemandem richtet, den besonderen Praktiken, in denen dieses erfolgt, und der damit explizit oder implizit erfolgenden Adressierung einzelner Schüler_innen. Derbzw. diejenige, dem bzw. der etwas gezeigt wird, wird immer in eine Relation zu einer spezifisch konstituierten ‚Sache' und der Zumutung, sich mit dieser auf eine bestimmte Art auseinanderzusetzen, gestellt. Diese Adressierung positioniert denjenigen/diejenige, und ist damit als ein performativ-anerkennender Akt zu sehen: Jemand wird, indem er als ein_e Besondere_r angesprochen, also adressiert wird, anerkannt. Das bedeutet, er/sie kann und wird als Subjekt sowohl konstituiert wie bestätigt, aber auch negiert und transformiert [2]. Auf die Adressierung – und damit aber auch bezogen auf eine so geschaffene besondere ‚Sache' und vor dem Hintergrund mit der Adressierung gesetzter bzw. wiederholter Normen – muss der/die Angesprochene in irgendeiner Weise reagieren: „Ein auf das Lernen gerichtetes Zeigen der Sache als angenommene Adressierung eines Jemand, der sich damit durch einen Anderen als ein spezifischer Jemand erlernt“ (Reh und Rabenstein 2013, S. 295). Differenzieren lässt sich zwischen offensichtlichen, ausdrücklichen Adressierungen und einer impliziten, eingeschlossenen Adressiertheit, die sich entweder non-verbal, körperlich über Blicke, Gesten oder Berührungen, in Bewegungen und Ausrichtungen des Körpers – auch auf andere zu – widerspiegeln kann oder verbal über unterschiedlichste sprachliche Formen präsentiert ist. Dabei können einzelne oder mehrere Schüler_innen, eine Schüler_innengruppe bzw. viele im Modus einer Verallgemeinerung, Selektion oder Individualisierung angesprochen werden (vgl. Reh und Ricken 2012, S. 43f.).
Heuristisch lassen sich Adressierungen und Adressiertheit in unterrichtlichen Praktiken in mehreren Schritten analytisch getrennt erfassen (vgl. Reh und Ricken 2012, S. 44f.). Wir fragen, um dieses Geschehen rekonstruieren zu können, daher in folgender Weise:
t Erstens: Welche Regeln und Vorgaben setzt die Lehrperson explizit oder implizit, damit über die ‚Sache' gesprochen werden kann? Wie wird damit das Wissensfeld gerahmt, über das gesprochen wird, und inwiefern wird es damit in ein Verhältnis zu Wissensfeldern außerhalb des Unterrichts gesetzt?
t Zweitens: Wie bestimmt die Lehrperson die zu vermittelnde ‚Sache'? Welche Wissensinhalte erscheinen als das Wissensfeld intern differenzierende, wie wird also das Wissensfeld geordnet?
t Drittens: Als wen spricht die Lehrperson die Schüler_innen in Bezug zu der zu zeigenden ‚Sache' an und zu wem können die Schüler_innen dabei werden?
t Viertens: Wie positioniert sich die Lehrperson im Verhältnis zu ‚Sache' und Schüler_innen?
t Fünftens: In welche Beziehung/in welches Verhältnis setzen sich die Schüler_innen zu den Adressierungen in ihrem Tun und lassen es damit erst zu dem werden, was es dann ist?
- [1] Dieses Wissen zergliedert sich in ein Wissen, wie (Know-how) und wofür jemand etwas tut (Deutungswissen und Sinnverstehen) (vgl. Reh und Ricken 2012, S. 39)
- [2] Die Darstellung einer anerkennungstheoretisch fundierten Theorie der Subjektkonstitution ist voraussetzungsreich und kann hier nicht im Einzelnen erfolgen (vgl. Ricken 2009a, 2009b; auch Balzer und Ricken 2010)