Kapitalismus in der Kritik

Die Kritik am Kapitalismus ist genauso alt wie dieser selbst. Es gibt kaum ein Übel, für das er nicht schon verantwortlich gemacht worden wäre. Seine unbestreitbaren Errungenschaften (vor allem die Reichtumsproduktion und damit die Befreiung großer Teile der Menschheit von materiellem Elend) zählen in dieser Kritik kaum. Ich gehe im Folgenden nur auf solche Kritikpunkte ein, die sich eindeutig dem Kapitalismus als einer Organisationsform der Wirtschaft zurechnen lassen, die also nicht in der viel breiteren Bewegung der Modernisierung ihren Grund haben. Zu letzteren zählen z. B. die auf Max Weber (1920) zurückgehende Kritik am Freiheitsverlust durch Bürokratisierung und am Sinnverlust durch Rationalisierung sowie die Kritik an der Vereinsamung und Anonymisierung in der Massengesellschaft (vgl. Riesman 1965). Ich konzentriere mich auf die folgenden Punkte: (materielle) Ungleichheit, zunehmende Armut, Ausbeutung der Arbeiter, Instabilität des Wirtschaftssystems, Massenarbeitslosigkeit, Herrschaft über die abhängig Beschäftigten als innersystemische Folgen, Gemeinschaftsverlust und Umweltzerstörung als Folgewirkungen der kapitalistischen Expansion für die nicht-kapitalistische Umwelt des Systems. Nicht zur Sprache kommt die reichhaltige Literatur zum Thema „Marktversagen“[1], aus Platzgründen ebenfalls nicht die älteren Vorwürfe des Im-perialismus und Kolonialismus. Dafür werfe ich abschließend einen Blick auf die Kritik an der „Globalisierung“.

1. Nichts scheint für eine kapitalistische Wirtschaft typischer zu sein als die materielle Ungleichheit, verstanden als Ungleichheit der Einkommen und der Vermögen. In der Tat ist noch keine kapitalistische Wirtschaft mit Gleichverteilung der Einkommen beobachtet worden. Noch viel ungleicher als die Einkommen sind die Vermögen verteilt. Insofern scheint der Schluss unabweisbar, dass materielle Gleichheit nur jenseits der kapitalistischen Produktionsweise zu haben ist. Einmal vorausgesetzt, dass die tatsächlich beobachtbare Ungleichheit in Gesellschaften mit kapitalistischer Organisation der Wirtschaft eindeutig in dieser Organisationsform ihre Wurzeln hat und daher mit ihr verschwinden würde, harren gleichwohl zwei Fragen der Beantwortung: Erstens, nimmt die Ungleichheit im Lauf der kapitalistischen Entwicklung immer weiter zu, und zweitens, wie viel Ungleichheit verträgt die Gesellschaft bzw. was ist „falsch“ an der Ungleichheit?

Zur ersten Frage: Die Ungleichheit ist nicht erst mit dem Kapitalismus in die Welt gekommen, sondern schon viel früher. Sie ist eine „Erfindung“ der Hochkulturen, die seit ihrem ersten Auftreten in Mesopotamien bis zum Anbruch der Moderne die Weltgeschichte dominiert haben. Für sie ist Stratifikation typisch. Im Übergang zum Kapitalismus ist diese Ungleichheit nicht beseitigt worden, obwohl die Gleichheitsidee mit der Französischen Revolution ihren Siegeszug um die Welt angetreten hat und Konkurrenzmärkte in dieser Richtung wirken. [2] Materielle Ungleichheit ist jedoch keine unveränderliche Größe, sondern variiert mit dem Entwicklungsgrad der kapitalistischen Produktion. Folgt man Kuznets (1965), dann nimmt sie im Laufe der kapitalistischen Entwicklung erst zu, später wieder ab. Der ‚reife' Kapitalismus ist jedenfalls durch weniger Einkommensungleichheit geprägt als ein erst sein Terrain erobernder Kapitalismus. Wie gut die ‚Kuznets-Kurve' die tatsächliche Entwicklung wiedergibt, ist Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse. Insbesondere kann man bestreiten, dass nach einem Kulminationspunkt die materielle Ungleichheit ständig weiter abnimmt.[3]

Wie entwickelt sich die Ungleichheit weltweit? Auch wenn sie in allen vom Kapitalismus ergriffenen Ländern zunehmen sollte, in den alten Industrieländern ebenso wie in den jungen, könnte es trotzdem sein, dass sie weltweit abnimmt; dann nämlich, wenn die neu in den Kapitalismus eintretenden Länder wie z. B. China und Indien schneller wachsen als die Länder des „reifen“ Kapitalismus. Firebaugh (2003) hat gezeigt, dass die „neue Geographie der weltweiten Ungleichheit“ auf eine Abnahme der Ungleichheit zwischen den Ländern bei einer gleichzeitigen Zunahme der Ungleichheit innerhalb der entwickelten Länder des Westens (aber auch z. B. Chinas) seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hinausläuft. Die alte Geographie der Ungleichheit war dagegen durch wachsende Ungleichheit zwischen den Ländern und abnehmende Ungleichheit in den schon entwickelten Ländern geprägt. Ob die globale Ungleichheit im Ergebnis weiter ansteigt oder abnimmt, hängt dann davon ab, wie groß der Einfluss der beiden Faktoren (abnehmende Ungleichheit zwischen den Ländern, zunehmende Ungleichheit in einigen Ländern) auf die weltweite Entwicklung jeweils ist.

Eine solche „varianzanalytische“ Messung der globalen Ungleichheit (durch Vergleich der Varianz innerhalb von Gruppen mit der zwischen Gruppen) wäre überholt, wenn es im Prinzip gelänge, jedem Bürger auf der Welt ein individuelles Einkommen zuzurechnen. Sala-i-Martin (2006) hat diesen Weg beschritten. Zunächst ermittelt er für 138 Nationen (93 % der Weltbevölkerung) die jährliche Einkommensverteilung zwischen 1970 und 2000. Wo keine Individualdaten vorliegen, werden sie mittels statistischer Verfahren geschätzt. Die weltweite Einkommensverteilung ergibt sich aus der Integration der Einkommensverteilung der einzelnen Länder. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, seine Ergebnisse seien von dem verwendeten Ungleichheitsmaß abhängig, misst er die Einkommensverteilung mit den wichtigsten aus der Statistik bekannten Ungleichheitsmaßen (z. B. Gini, Atkinson, Theil) und kommt zu dem Schluss: „not only has world income inequality not increased as dramatically as many feared, but it has, instead, fallen since its peak in the late 1970s“ (Sala-i-Martin 2006, S. 356).

Auch dieses Forschungsergebnis ist natürlich offen für Einwände.[4] Aber auch wenn an den empirischen Trendaussagen Korrekturen vorgenommen werden müssten, bliebe die Frage, was an der Ungleichheit „falsch“ ist. Materielle Gleichheit, verstanden als Gleichverteilung der Einkommen, ist jedenfalls kein oberster Wert. Dieses Ziel wäre ja auch dann realisiert, wenn alle gleich arm sind. Zwar lässt sich unter bestimmten Voraussetzungen (u. a. identische Präferenzen aller Individuen) zeigen, dass gleichere Verteilungen eine höhere Wohlfahrt stiften, aber dieses Resultat gilt nur für Verteilungen mit dem gleichen Mittelwert (vgl. Atkinson 1970). Die Antwort auf die Frage, ob eine Situation mit geringerem Durchschnittseinkommen, dafür aber größerer Gleichheit tatsächlich einer Situation mit höherem Durchschnittseinkommen unter Inkaufnahme größerer Ungleichheit vorzu-ziehen ist, hängt u. a. von der Aversion gegen Ungleichheit ab. Wenn wirtschaftliche Entwicklung nur um den Preis von Einkommensunterschieden zu haben wäre, gäbe es gute Argumente dafür, diesen Preis zu entrichten – das Differenzprinzip von Rawls (1979) könnte auch so gelesen werden. Falls eine ungleiche Einkommensverteilung das Einkommensniveau der ärmsten Gruppe anhebt, dann ist diese Verteilung gerecht.

Von der Behauptung zunehmender Ungleichheit muss man die Behauptung zunehmender Armut unterscheiden. Es kann durchaus sein, dass trotz wachsender Ungleichheit die Armut abnimmt, weil im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auch die Armen sich besser stellen, nur eben in geringerem Umfang als die der Armut schon entronnenen Gruppen. Die Annahme, die Ausbreitung des Kapitalismus gehe mit steigender Massenarmut einher, hat ihren Ursprung in der Marxschen Verelendungstheorie. Mit keiner Annahme lag Marx so sehr im Widerspruch zu den Tatsachen wie mit dieser Annahme. In Ländern, die von der kapitalistischen Produktionsweise ergriffen wurden, steigen nach einer Phase der Umstellung von einer traditionalen auf die kapitalistische Produktionsweise die Einkommen der Beschäftigten für gewöhnlich an. Mittelfristig kann es jedoch immer wieder zu schweren Einbrüchen wegen Wirtschaftskrisen kommen. Einen besonders eindrucksvollen Einkommensanstieg hat es in den Industrieländern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben.[5]

Auch weltweit gesehen steht die Behauptung einer kontinuierlich steigenden Armut auf schwachen Füssen. Behauptungen über das Niveau und den Trend der Armut sind zwar hochgradig abhängig von der Armutsdefinition und dem Messverfahren, aber es spricht doch viel dafür, dass mit der Ausbreitung des Kapitalismus über den Erdball die Armut zurückgeht und nicht ansteigt. „In the years since World War II“ konstatiert Deaton (2013, S. 218), „the modern world has seen the greatest escape of all. Rapid economic growth in many countries has delivered hundred of millions of people from destitution.“ Auch die Weltbank geht davon aus, dass Zahl der sehr armen Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten um 721 Mio. auf 1,2 Mrd. gesunken ist. „Wir sind Zeugen eines historischen Moments, in dem sich die Menschen selbst aus der Armut befreien“, so der Präsident der Weltbank, Jim Yong Kim (Handelsblatt 10.10.2013). Trotz dieses Erfolgs darf aber nicht übersehen werden, dass das Leben unter solchen Bedingungen mit für die Bewohner reicher Industrieländer unvorstellbaren Entbehrungen verbunden ist. Der einzig erfolgversprechende Weg, extremer Armut auf Dauer zu entkommen, sind nicht Transfers, sondern das Wachstum der heimischen Wirtschaft.

2. Eng verwandt mit dem Problem der materiellen Ungleichheit ist die Ausbeutung der Arbeiter. Oft wird Ausbeutung als Ursache der Ungleichheit angesehen, aber an sich haben beide Sachverhalte nichts miteinander zu tun. Ausbeutung besteht in der Aneignung fremder Arbeit ohne Gegenleistung. Als Prototyp einer ausbeuterischen Beziehung gilt das Beschäftigungsverhältnis in der kapitalistischen Unternehmung. Die Kritik lautet, dass der kapitalistische Unternehmer von seinen Arbeitskräften mehr Arbeit erhält als er diesen in der Gestalt von Löhnen zurückgibt. Die an die Unternehmung gelieferte Arbeit lässt sich relativ einfach messen: sie variiert proportional mit der Länge des Arbeitstages, wenn man einmal von Problemen des Arbeitstempos, technisch unnötiger Arbeit und unterschiedlich qualifizierter Arbeit absieht (nicht jede Arbeit zählt gleich viel). Der Arbeitgeber entlohnt die Arbeitnehmer letztendlich ebenfalls in Arbeitseinheiten, weil die Waren, welche die Beschäftigten sich von ihren Löhnen kaufen, in ihrer Produktion verausgabte Arbeitsmengen repräsentieren.[6]

Diese Ausbeutungsthese steht und fällt damit, dass die von den Arbeitern an das Unternehmen abgelieferte Arbeit tatsächlich größer ist als die Arbeitsmenge, die in dem vom Lohn gekauften Warenkorb enthalten ist. Marx hat diese Behauptung im Kapital nicht bewiesen, sondern nur mit einer passenden Situationsschilderung plausibilisiert. Wenn sich zeigen ließe, dass die im Preissystem definierte Profitrate dann und nur dann positiv ist, wenn auch die im System der gesellschaftlichen Arbeit definierte Mehrwertrate (das Verhältnis von Mehrarbeit für den Kapitalisten zur für die Existenzerhaltung des Arbeiters notwendigen Arbeit) positiv ist, wäre auf der Aggregatebene einer kapitalistischen Wirtschaft der Beweis erbracht. Morishima (1973) hat einen solchen Beweis geliefert. Dieser krankt aber an zweierlei. Er gilt, erstens, nur für homogene Arbeit, abstrahiert also von Qualifikationsunterschieden der Arbeitnehmer. Lässt man sie zu, könnte es sein, dass die besser qualifizierten Arbeiter die weniger qualifizierten ausbeuten. Gegen Morishimas Beweis lässt sich zweitens einwenden, dass der „letzte“ Grund für die Ausbeutung gar nicht die Differenz von getauschten Arbeitsmengen ist, sondern eine von der Unternehmung bereitgestellte produktive Technologie, die es erst möglich macht, dass die Arbeiter weniger Zeit für die Produktion ihrer täglichen Lebensmittel benötigen als der Arbeitstag dauert.

3. Offensichtlicher als die Existenz von Ausbeutung scheint die Instabilität einer kapitalistischen Wirtschaft zu sein. Sie findet ihren Ausdruck in den Schwankungen der Konjunktur, die in der Tat die kapitalistische Entwicklung von Anfang an begleitet haben. Zur Debatte steht nicht, ob Konjunkturschwankungen sich gänzlich vermeiden lassen, sondern eigentlich nur, ob sie sich immer weiter hochschaukeln und in dem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems münden. Marx hatte mit einer solchen Entwicklung gerechnet, aber die Empirie spricht eindeutig gegen eine solche Bewegung der Krisenverschärfung. Gerade die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine schwerlich bestreitbare Erfolgsgeschichte. Zwar hat es auch da Konjunkturschwankungen mit gelegentlichen Rückgängen des Sozialprodukts gegeben, sie erreichten aber nicht annähernd die Größenordnung der Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahrhunderts.[7] Und ob Letztere der Funktionsweise einer kapitalistischen Wirtschaft oder Politikfehlern zuzurechnen ist, ist eine Frage für sich. Vieles spricht dafür, dass besagte Krise durch ‚Regierungsversagen' wenn nicht verursacht dann doch dramatisch verschärft wurde.[8] Statt dass die Zentralbanken als lender of last resort die Geschäftsbanken mit billigem Geld versorgten, trieben sie diese durch eine Politik des knappen Geldes geradezu in den Zusammenbruch.

Auch wenn schwere Konjunkturkrisen diesen Ausmaßes in Zukunft vermieden werden könnten, weil die Regierungen aus der Katastrophe der Weltwirtschaftskrise gelernt haben (das gleiche gilt für Finanzkrisen), bleibt die Tatsache bestehen, dass die Einkommenschancen und damit die Lebenslagen der abhängig Beschäftigen prinzipiell konjunkturabhängig sind. In Rezessionen gehen Arbeitsplätze verloren und die Arbeitslosigkeit steigt an. Vermieden oder wenigstens abgeschwächt werden könnten solche Effekte, wenn die Unternehmen politische Prämien auf das Horten von Arbeitskräften erhielten. Wenn die Rezession überwunden ist und der Arbeitsmarkt hinreichend flexibel reagiert, geht die Arbeitslosigkeit aber wieder zurück. Vollbeschäftigung scheint jedoch eine Ausnahme des „goldenen Zeitalters“ der kapitalistischen Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen zu sein. Theoretische Gründe und die empirische Evidenz sprechen dafür, dass „milde“ Arbeitslosigkeit ein Systemerfordernis ist. Nach einer verbreiteten Lehrmeinung ist sie im Kapitalismus funktional, um die Ansprüche der Arbeitnehmer auf das Sozialprodukt in Schach zu halten.[9] Ihr Ausmaß variiert jedoch von Land zu Land und sogar von Region zu Region. Schon deswegen wäre es verkehrt, sie insgesamt „dem“ Kapitalismus zuzurechnen. Das Niveau der Arbeitslosigkeit ist auch regulatorisch bedingt (z. B. Mindestlöhne!) und könnte durch eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts abgesenkt werden. Vor allem gibt es aber keine Tendenz zu immer weiter ansteigender Arbeitslosigkeit.[10] Zwar ist sie z. B. in Deutschland, wo um 1960 der Arbeitsmarkt leergefegt war, von Zyklus zu Zyklus auf über 12 % (2005) angestiegen; sie ist aber seitdem wieder zurückgegangen (November 2013: 6,5 %).

Es kann keine Rede davon sein, dass Konjunkturkrisen, materielle Ungleichheit, Armut und Arbeitslosigkeit im Kapitalismus dauerhaft überwunden worden seien. Sie haben von Anfang an die Entfaltung dieses Wirtschaftssystems begleitet und es hat nicht den Anschein, als würden sie jemals der Vergangenheit angehören. Einerseits sind Wirtschaftskrisen (im Sinne von Reinigungskrisen) und Arbeitslosigkeit systemnotwendig, andererseits ist „das System“ aber sehr erfolgreich bei der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern. Umstritten ist, ob mehr Gleichheit das Wirtschaftswachstum abschwächt und damit diese Versorgung gefährdet. Bevor jedoch dieses System wegen der benannten Übel verworfen wird, sollten einige Argumente berücksichtigt werden, die Einwände dieser Art relativieren. Erstens, theoretische Gründe und empirische Beobachtungen sprechen dafür, dass kein anderes Wirtschaftssystem zur kontinuierlichen Anhebung des Lebensstandards besser geeignet ist als der Kapitalismus. Als Maschine zur Reichtumsproduktion ist dieses System unübertroffen. Zweitens, für Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut gilt gleichermaßen, dass ihr Ausmaß von Definitionen und Messverfahren abhängt. Für wie „schlimm“ sie gehalten werden, ist drittens durch Werturteile bedingt. Viertens gibt es keinen Trend einer kontinuierlichen Zunahme der besagten Übel und fünftens ist denkbar, dass ein „reines“ kapitalistisches System weniger von Ungleichheit oder Arbeitslosigkeit geplagt wäre als die Mischwirtschaften der Industrieländer.

4. Kapitalismuskritik ist immer auch Herrschaftskritik gewesen. Sie tritt in zwei Formen auf: als Kritik der politischen Herrschaft im Staat und als Kritik der betrieblichen Herrschaft in der Unternehmung. Es ist wichtig, zwischen beiden Dimensionen zu unterscheiden. Die Kritik der politischen Herrschaft kulminiert in der Behauptung, der Staat sei nichts anderes als ein „Instrument der herrschenden Klasse.“ „Die politische Gewalt“, heißt es programmatisch im Kommunistischen Manifest (1959 [1848], S. 482) „ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Un-terdrückung einer anderen.“ Diese Aussage bildet bis heute die Grundlage einer marxistischen Staatstheorie. Noch der demokratische Rechtsstaat der Gegenwart fällt unter dieses Verdikt. Organisierte Repression und der Klassencharakter politischer Herrschaft bilden nicht nur für vergangene Staatsformen, sondern auch für die Gegenwart des „Spätkapitalismus“ die zentralen Gesichtspunkte einer Analyse der Staatstätigkeit. Die „staatliche Herrschaft“, schreibt z. B. Offe (1972, S. 77), hat „Klassencharakter…, wenn sie so konstruiert ist, dass es ihr gelingt, das Kapital vor seinem eigenen falschen wie vor einem antikapitalistischen Bewusstsein der Massen in Schutz zu nehmen.“ In dieser Version der These von der politischen Klassenherrschaft besteht die Aufgabe des Staats darin, das Kapital über seine eigenen „wahren“ Interessen aufzuklären und vor potentiellen Massenprotesten z. B. durch geeignete sozialpolitische Maßnahmen zu bewahren.

Die Perspektive, unter der die Staatstätigkeit analysiert wird, ist der Klassenkonflikt. Zu einer gänzlich andersartigen Sichtweise gelangt man, wenn nicht die Existenz von Klassen, sondern die Effizienz von Konkurrenzmärkten als Ausgangspunkt einer Analyse des Staatssektors gewählt wird. Diesen Ansatzpunkt wählen z. B. Atkinson und Stiglitz (1980) in ihren Vorlesungen über „Public Economics“. Nicht der Klassengegensatz, sondern „the proposition about the efficiency of competitive equilibrium is used as a reference point to explain the roles of government activity“ (ebd., S. 6). Staatsfunktionen ergeben sich dann daraus, dass zum einen die Vorbedingungen für Markteffizienz in der Realität nicht gegeben sind und zum anderen, dass es Ziele gibt, die auch durch noch so effiziente Märkte nicht angesteuert werden können. Gerade wenn das hochgradig irreale Basistheorem der Effizienz der Wettbewerbswirtschaft als analytischer Bezugspunkt akzeptiert wird, so Atkinson und Stiglitz (1980, S. 8), eröffnet sich ein stringenter Weg zur Ableitung von Staatsfunktionen. Als Staatsziele ergeben sich dann Verteilungsgerechtigkeit (durch progressive Besteuerung), Monopolbekämpfung durch Kartellgesetzgebung, Einrichtung von Versicherungen für privat nicht versicherbare Risiken wie z. B. die Arbeitslosigkeit, Konjunktursteuerung, Eindämmung der Drittwirkungen privater Tauschhandlungen (z. B. des Autolärms als Folge des Autokaufs- und Verkaufs), Bereitstellung öffentlicher Güter und Verbot unerwünschter privater Güter wie z. B. Kinderpornographie im Fernsehen.

Die Inangriffnahme dieser Staatsaufgaben lässt sich kaum als Ausübung politischer Klassenherrschaft ansehen – es sei denn, man betrachtete sie als ein raffiniertes Manöver, mit dem der „kapitalistische Staat“ die Aufmerksamkeit von seinem eigentlichen Zweck ablenkt. Weitere Gründe dagegen, im Staat nur den direkten oder indirekten Agenten des Kapitals zu erblicken sind: Die Existenz von Kapitalfraktionen mit ganz unterschiedlichen Interessen und die Entstehung einer „Versorgungsklasse“ (Lepsius 1979) von Rentnern und Pensionären. Allenfalls wäre es diese Klasse, welcher der Staat dienen würde, wenn er denn überhaupt im Dienste einer Klasse stünde. In die gleiche Richtung einer Abkoppelung des Regierungshandelns von Kapitalinteressen deutet das allgemeine Wahlrecht, insbesondere aber die Eroberung immer weiterer Sozialrechte durch die abhängig Beschäftigten.[11] Die gegenwärtige Lage des Staats in westlichen Gesellschaften scheint mir insgesamt eher durch „Herrschaftsverlust und Sanktionsverzicht“ gekennzeichnet zu sein als durch zunehmende Repression.

Substantieller als die Kritik der politischen Herrschaft des Kapitals ist die Kritik an der betrieblichen Herrschaft. Ganz unbestreitbar steht die Belegschaft im Betrieb unter dem „Kommando des Kapitals“. Das Recht zur Entscheidung über den Einsatz der Arbeitskräfte liegt ja bei der Unternehmensleitung. Allerdings hat jeder Arbeitnehmer durch den Abschluss eines Arbeitsvertrags dieser Herrschaft zugestimmt. Sie hat Vorteile für beide Seiten. Den Vorteil, nach dem Vertragsabschluss bestimmen zu können, was die Beschäftigten im Einzelnen zu tun haben, entgelten die Arbeitgeber mit höheren Gehaltszahlungen als sie bei einem Vertrag möglich wären, der ihnen dieses Privileg nicht einräumt.

Mit der Umstellung der Befehlsgewalt auf eine vertragliche Basis ändert sich nicht nur der Charakter der Herrschaft, auch ihre Basis wird brüchig. Zumindest kann in einer Gesellschaft, die alle sozialen Beziehungen in vertragliche Formen gießt, Herrschaft nicht mehr auf Ansprüche gegründet werden, die auf Statusunterschieden oder auf einem vorvertraglichen Dienstverhältnis beruhen. Herrschaft auf vertraglicher Basis kann nur solange ausgeübt werden, als die Beherrschten durch die Kündigung des Vertrags etwas zu verlieren haben. Solange sie selbst schadlos kündigen können, steht bei jeder Anordnung die Frage im Raum, aus welchen Motiven sie überhaupt befolgt werden soll. Anders sieht es aus, wenn die Betriebsleitung mit der Nichtverlängerung von Verträgen drohen kann. Das kann sie aber nur, wenn Unterbeschäftigung herrscht, weil nur dann ein Wechsel der Beschäftigung, sieht man einmal von den Friktionskosten (eventuell auch: Reputationskosten) ab, für die Beschäftigten mit empfindlichen Nachteilen verbunden ist.

Aus dem Blickwinkel einer radikalen Kritik der kapitalistischen Herrschaft im Betrieb gehen Ausführungen über die vertragliche Begrenzung und Umformung der Herrschaft an der Wirklichkeit des betrieblichen Geschehens vorbei. Für diese Kritik hat Marx, dessen Leistung ja gerade war, den vertraglichen Charakter des Arbeitsverhältnisses herauszustellen, die entscheidenden Stichworte geliefert. Im kapitalistischen Betrieb, so Marx (1968, S. 674) schlagen „alle Mittel zur Entwicklung der Produktion … in Beherrschungs- und Ausbeutungsmittel des Produzenten“ um; sie „verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen“, „entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine“, „verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet“, und „unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie.“ Die einflussreiche Studie von Braverman (1974) hat den Tenor dieser Analyse für die Kritik des Kapitalismus im Zwanzigsten Jahrhundert übernommen. Degradierung der Arbeiter einerseits, Kontrolle über den Arbeitsprozess andererseits sind und bleiben für ihn die zentralen Merkmale der „reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital“ (Marx). In der auf Braverman folgenden „labor process debate“ sind zwar erhebliche Korrekturen an diesem Bild vorgenommen worden, aber an dem prinzipiellen Ansatz, dass der Betrieb nur der Ort ist, an dem ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis praktisch wird, hat sich zunächst einmal wenig geändert.

Zu einer Korrektur dieses Bildes kam es erst aufgrund dreier analytischer Entwicklungen: der Preisgabe gesellschaftstheoretischer Ambitionen der Industriesoziologie (damit verbunden der Distanzierung von der Marxschen Basis-Überbauthese), der Anerkennung der betrieblichen Organisation als einer eigenständigen Handlungsebene und der Einsicht, dass auch Herrschaftsformen einem zeitlichen Wandel unterliegen. In der neueren deutschen Industrie- und Betriebssoziologie sind diese Denkschritte, wenn ich recht sehe, entschiedener vollzogen worden als etwa in der angelsächsischen radikalen politischen Ökonomie.[12] Aber auch dort wird heute gesehen, dass es verschiedene Formen der betrieblichen Personalführung gibt, dass Taylorismus nur eine extreme und keine universelle Form des Personalmanagements ist und dass Kontrollformen der Arbeit sich im Laufe der kapitalistischen Entwicklung ändern (Edwards 1981).

Wie eine verzweigte wirtschaftshistorische, betriebswirtschaftliche und arbeitssoziologische Forschung gezeigt hat, ist im Verlauf einer langen historischen Entwicklung die betriebliche Herrschaft zeitlich, sachlich und sozial schrittweise eingegrenzt und domestiziert worden. Ein persönliches Willkürregiment ist zwar immer noch nicht ausgeschlossen, aber für die betriebliche Herrschaft im fortgeschrittenen Kapitalismus keineswegs typisch. Trotz der die Öffentlichkeit immer wieder empörenden Berichte über Arbeitshetze und Bezahlung in einzelnen Produktionszweigen läuft die Entwicklung langfristig eher auf Herrschaftsbegrenzung und -zähmung als auf Herrschaftserweiterung hinaus.

Vielleicht am deutlichsten sichtbar wird die postulierte Entwicklungsrichtung in der zeitlichen Beschränkung der betrieblichen Herrschaft. Am Beginn einer Bewegung, deren Ziel die massive Reduktion des Anteils der Arbeitszeit an der Lebenszeit ist, stand die von Marx (1968, Kap. 8) geschilderte „zwangsgesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit“ durch die englische Fabrikgesetzgebung von 1833– 1864. Sie setzte dem „Werwolfsheißhunger für Mehrarbeit“ (ebd., S. 258) immer enger gezogene legale Grenzen. Nicht nur die tägliche Arbeitszeit, auch die wöchentliche und jährliche Arbeitszeit sind in den entwickelten Industriegesellschaften seit Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts rückläufig. Schließlich vermindern verlängerte Bildungszeiten und ein jüngeres Pensionierungsalter den Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit weiterhin. Erst in der allerjüngsten Vergangenheit scheint dieser Trend gebrochen worden zu sein (Heraufsetzung des Rentenalters, Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit z. B.).

In sachlicher Hinsicht ist die Kommandogewalt des Kapitals insofern beschränkt, als nur befohlen werden kann, was in das Aufgabengebiet des Arbeitnehmers fällt. Eine Vielzahl gesetzlicher Vorschriften hat dazu geführt, dass der Arbeitsprozess hochgradig verrechtlicht wurde. Dies setzt der unternehmerischen Willkür, nach Gutdünken über die Arbeitsbedingungen zu entscheiden, enge Grenzen. Ferner, je qualifizierter die Beschäftigten sind, umso mehr nimmt das ‚Kommando des Kapitals' die Gestalt einer allgemeinen Direktive (z. B. Erforschung eines Impfstoffs gegen AIDS) an, deren konkrete Ausfüllung bei den Beschäftigten liegt. Das Schema von Befehl und Gehorsam setzt ja voraus, dass der „Herr“ mehr weiß als der Untergebene. Es greift nicht bei qualifizierten Dienstleistungsarbeiten. Auch in sozialer Hinsicht sind dem Herrschaftsverhältnis von Kapital und Arbeit Grenzen gesetzt. Zum einen ist die Befehlsgewalt auf einen engen Kreis von Vorgesetzten begrenzt, zum anderen gilt auch für den Privatbetrieb die Entpersönlichung der Herrschaft im Zuge ihrer Bürokratisierung. „Die Vorstellung, dass die Verbandsgenossen, indem sie dem Herrn gehorchen, nicht seiner Person gehorchen, sondern…unpersönlichen Ordnungen“ (Weber 1972, S. 125) ist keineswegs auf die staatliche Herrschaft beschränkt, sondern charakterisiert auch die betriebliche Herrschaft, soweit sie bürokratisiert ist. Auch für den Betrieb gilt, dass der Herrschende nicht mehr, wie unter Bedingungen traditionaler Herrschaft, „persönlicher Herr“ ist (Weber 1972, S. 130), sondern ein Vorgesetzter, der, „indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung gehorcht, an welcher er seine Anordnungen orientiert“ (ebd., S. 125).

5. Zum Repertoire der Kapitalismuskritik gehört auch die Betrachtung der Auswirkungen der kapitalistischen Expansion auf die soziale und natürliche Umwelt des Wirtschaftssystems. Für die Kritik an den sozialen Auswirkungen der Umstellung auf eine vertragsbasierte Produktionsweise hat Tönnies (1991 [1887]) die Stichworte vorgegeben: Die Zunahme an „Gesellschaft“ führe zwangsläufig zu einem Rückgang an „Gemeinschaft“. Schon bei Marx, der sich mit einem wirkli-chen Verständnis der mittelbaren Vergesellschaftung über den Tausch schwer tat, schimmert dieses gedankliche Muster in seiner Kritik an der Entfremdung und der Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft durch. Eine begrifflich durchgearbeitete Form hat dieses Denkmuster in der These der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981) als Folge der wirtschaftlichen Expansion gefunden. ‚Falsch' an der Wirtschaft und an der staatlichen Herrschaft sind Habermas zufolge nicht deren Organisationsprinzipien, sondern die Bereichsübertretung: Zu ihr kommt es immer dann, wenn lebensweltliche Sphären unter die Herrschaft ‚systemischer Imperative' gelangen. Diese prominente Kritik übersieht allerdings, dass die ‚Lebenswelt' sich genauso in der Privatwirtschaft und der staatlichen Administration breit machen kann wie Verrechtlichung und Ökonomisierung das alltägliche Leben in Gemeinschaften prägen und entfremden können.

Das Argument vom Gemeinschaftsverlust (oder Moralverlust) als Folge der Expansion der Marktwirtschaft tritt in mehreren Varianten auf. Es ist z. B. präsent in den Befürchtungen der christlichen Kirchen, dass materialistische Einstellungen überhand nähmen und andere, höherwertige moralische Orientierungen („Solidarität“) verdrängten. Auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt es eine breite Strömung der Kritik am Konsumismus und Hedonismus einer kapitalistisch geprägten Kultur, die an die Stelle älterer und höher geschätzter Lebensformen und Wertorientierungen träten. Daniel Bell (1991) z. B. meinte, der Überfluss an Konsumgütern als Nebenfolge einer kapitalistisch organisierten Reichtumsproduktion befördere einen Hedonismus, der letztendlich auf die Auflösung des bürgerlichen, protestantisch geprägten Arbeitsethos hinauslaufe. Auch für Erich Fromm ist „radikaler Hedonismus und schrankenloser Egoismus“ (Fromm 1976, S. 16) das Signum der Gegenwart. Nach seiner Auffassung wurde diese Entwicklung durch die Abtrennung des wirtschaftlichen Verhaltens von der „Ethik und den menschlichen Werten“ eingeleitet (Fromm 1976, S. 17). Kritiken dieser Art, so bedenkenswert sie auch sein mögen, leiden zum einen an ihrem unheilbaren Romantizismus. Auch wenn man sich auf den Standpunkt dieser Kritik stellt, scheint nur klar zu sein, dass es zu einem Moral- und Gemeinschaftsverlust gekommen ist. Unklar ist aber schon, welche Periode der Geschichte hierfür den Referenzpunkt abgibt. Zum anderen fehlt dieser Kritik ein Bewusstsein dafür, dass die kapitalistische Expansion nicht nur ältere Formen der Moral beseitigt, sondern, wie Durkheim in seinem Erstlingswerk (Durkheim 1988 [1893]) zeigt, eine neue Moral der wechselseitigen Anerkennung aller Menschen als gleichwertiger Bürger befördert. Die Empfindlichkeit z. B. gegenüber Verletzungen der menschlichen Würde ist in den letzten Jahren enorm gewachsen und nicht geschrumpft.

6. Seit dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des „Club of Rome“ (Meadows 1972) beherrscht die Gefährdung der natürlichen Umwelt durch eine ständig expandierende industrielle Produktion die öffentliche Debatte. Das wirtschaftliche Wachstum führt, so lautet der Tenor der Kritik, zu einer beängstigenden Verschmutzung von Luft, Erde und Wasser, es verbraucht in einem atemberaubenden Tempo die natürlichen Ressourcen, rottet Arten aus, vernichtet uralte Waldbestände und gefährdet damit nicht nur die Lebensräume vieler Arten, sondern letztlich auch die Lebensgrundlagen des Menschen. Die jüngste Phase dieser Debatte bezieht sich auf die Diskussion um den globalen Temperaturanstieg als eine Folge des erhöhten CO2-Gehaltes der Atmosphäre (vgl. Stern 2006). Die naturwissenschaftliche Seite dieser Debatte konzentriert sich dabei auf zwei Fragen: Wie sicher ist es, dass der Temperaturanstieg „menschengemacht“ ist und wie gravierend sind seine Auswirkungen? Das Ausmaß der Zerstörung zu ermitteln und die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge offen zu legen, ist allein Sache der Naturwissenschaften. Die Sozialwissenschaften sind hier inkompetent. Sache der Sozialwissenschaften ist es dagegen, die Aussage, „der Mensch“ gefährde seine natürlichen Lebensgrundlagen, so zu präzisieren, dass sie einem bestimmten Handeln zugerechnet werden kann. Die Naturwissenschaften erforschen die stofflichen Ursachen der Umweltzerstörung, die Sozialwissenschaften die Handlungszusammenhänge und Handlungsgründe, die für dieses Phänomen verantwortlich sind. Unterstellt man Handlungsrationalität im Sinne von die Folgen bedenkender Vernünftigkeit, ist schwer zu verstehen, wie es zu dem Raubbau an der Natur kommen kann. Unterstellt man hingegen Handlungsrationalität im Sinne einer kurzfristigen, einzelwirtschaftlichen Rationalität, werden die Folgen dieser Rationalität für die natürliche Umwelt leichter einsehbar. Das Umweltproblem ist dann ein typisches Kollektivgutproblem. Zu seiner Unlösbarkeit trägt Nichtwissen ebenso bei wie eine Kultur, deren Grundzug „Naturvergessenheit“ ist.[13]

Um die komplexen Zusammenhänge zwischen kapitalistischer Produktionsweise und Umweltverbrauch zu klären, muss eine Reihe von Fragen der beantwortet werden: a) In welchen Prozessen ist der Umweltverbrauch verankert: im Wirtschaftswachstum oder der Industrialisierung, also einer bestimmten Gestalt der Wirtschaft? b) Wenn der Umweltverbrauch keine Konstante, sondern eine Variable ist, die Koeffizienten des Verbrauchs daher veränderbar sind und mit der ‚Reifung' des Kapitalismus tendenziell zurückgehen, gibt es dann nicht technische Lösungen des Problems? c) Welches Problem ist gravierender: die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen oder die Verschmutzung der Umwelt? Wie es aussieht, ist das Letztere der Fall. Wenn alle fossilen Brennstoffe verbraucht sind, wird es neue Energiequellen geben, aber der Anstieg des CO2-Gehaltes der Atmosphäre bleibt eine unabsehbar lange Zeit erhalten. d) Liegt das Problem eher beim Produzenten oder beim Konsumenten? Der Konsument (gerade auch in der Verkleidung des Kritikers) hat es bislang jedenfalls erstaunlich gut vermocht, von seiner Rolle bei der Umweltzerstörung abzulenken.

7. Alle in diesem Abschnitt angesprochenen kritischen Motive finden sich in der aktuellen Kritik an der Globalisierung wieder. Besonders erstaunlich ist das nicht, da aus der Sicht der Globalisierungsgegner dieser Prozess auf Kapitalismus im Weltmaßstab hinausläuft. Solange jedoch noch Nationalökonomien bestehen, macht es einen Unterschied, ob unter der Weltwirtschaft eine internationalisierte Wirtschaft mit Währungsgrenzen verstanden wird, oder eine Wirtschaft, deren Wirtschaftsraum nicht eine Nation, sondern eben die Weltgesellschaft ist. Unter (wirtschaftlicher) Globalisierung wird in der an der Internationalisierung orientierten Diskussion gemeinhin die zunehmende Integration nationaler Ökonomien in den Weltmarkt durch internationalen Handel, Kapitalbewegungen, Auslandsinvestitionen und Migration verstanden. Der Abbau von Zollschranken, die Senkung von Transport- und Kommunikationskosten, leichter zugängliche Informationen, die Angleichung von Rechtssystemen, die Schaffung größerer Währungszonen, kurz: alle Faktoren, welche die Mobilität von Gütern und Diensten erhöhen, beschleunigen die Integration. An dem Vorgang selbst ist an sich nichts wirklich neu; neu ist allenfalls, dass er nach einer Phase der Zurückschraubung und Stagnation seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mit Beginn der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erneut Fahrt aufgenommen hat. Das gilt insbesondere für die Mobilität von Kapital und Arbeit, die ganz entscheidend die gegenwärtige Phase der Globalisierung prägt. Die Anklage lautet, Globalisierung vertiefe die weltweite Armut, verschärfe die Ungleichheit, steigere die Ausbeutung, zerstöre traditionale Lebensformen und gefährde die natürliche Umwelt in bisher ungekanntem Ausmaß. Aber für welche negativen Erscheinungen ist Globalisierung tatsächlich verantwortlich? Hier ein sicheres Urteil zu gewinnen, setzt voraus, dass am Unterschied zwischen nationaler Wirtschaft und internationalen Verflechtungen nationaler Wirtschaften festgehalten wird, dieser Unterschied also nicht in einem Konzept der Weltwirtschaft verschwindet, der dann pauschal alle Missstände zugerechnet werden. Zur Vermeidung von Wiederholungen begnüge ich mich mit wenigen Bemerkungen zu Armut und Ungleichheit. Zunächst überschätzt die Globalisierungskritik den Einfluss des Welthandels auf die wirtschaftliche Prosperität eines Landes bei weitem. Der Reichtum der schon entwickelten Nationen hängt primär von der Produktivität der Arbeit und damit weit mehr von der internen „Erzeugungsrate des technischen Fortschritts“ als vom Außenhandel ab (vgl. Rodrik et al. 2002; Krugman 1996). Den weniger entwickelten Ländern eröffnen sich dadurch Chancen, dass sie teils ihre unter niedrigen Lohnkosten produzierten Waren exportieren, teils den technischen Fortschritt der entwickelten Länder übernehmen können. Je mehr Länder auf den Pfad anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums einschwenken, umso aussichtsreicher wird der Kampf gegen die Armut. Die Behauptung weltweit wachsender Armut steht, wie weiter oben ausgeführt, auf Kriegsfuß mit den Fakten.[14] Das Wirtschaftswachstum Chinas und damit die Reduktion der chinesischen Armut wäre ohne Globalisierung, die China erlaubte, Waren im Ausland abzusetzen, für welche noch keine heimische Kaufkraft vorhanden war, kaum möglich gewesen.

Wenn es schon schwierig ist, die Armut in den Entwicklungsländern als Folge der Globalisierung zu verstehen, ist es dann eventuell aussichtsreicher, die wieder ansteigende Ungleichheit in den Industrieländern der Globalisierung zuzurechnen? Die öffentliche Meinung in den entwickelten Ländern sieht diese in einer aussichtslosen Konkurrenz mit den sogenannten Billiglohnländern begriffen. Der Abbau von Arbeitsplätzen, besonders für gering qualifizierte Arbeitskräfte mit der Folge wachsender Armut und Ungleichheit, wird gerne dieser Konkurrenz zugeschrieben. Eine Flut internationaler Publikationen beschäftigt sich mit der Frage, ob die wichtigste Ursache für die wachsende Ungleichheit in den entwickelten Ländern wirklich der rasch wachsende internationale Handel ist oder ob nicht andere Ursachen dafür verantwortlich seien. Wenn ich recht sehe, neigt die Forschung dazu, die Rolle des technischen Fortschritts weit höher zu veranschlagen als internationale Handelsbeziehungen.[15] Vermittelt über Änderungen der Nachfrage begünstigt der technische Wandel in den Industrieländern hoch qualifizierte Arbeitskräfte und benachteiligt gering qualifizierte (skill biased technological change).

Die publizistische Diskussion geht meist unbesehen davon aus, dass Länder ge-

nauso miteinander konkurrieren wie Unternehmen und daher in der Konkurrenz ebenso wie Unternehmen verschwinden könnten. Wie Krugman (1996) betont hat, widerspricht das jedoch elementaren Einsichten in die Funktionsweise des internationalen Handels. Was schließlich die Entwicklungsländer selbst anbelangt, so erwachsen ihnen vermutlich weniger Probleme aus der Integration in den Weltmarkt als aus der potentiellen Abkoppelung von ihm (siehe manche Länder Schwarzafrikas). Nicht die allseitige Öffnung der Märkte ist „unfair“, sondern eine protektionistische Handelspolitik der Industrieländer, die den Entwicklungsländern den Zutritt zu ihren Märkten verweigert.

  • [1] Der Terminus ‚Marktversagen' ist irreführend. In den Wirtschaftswissenschaften versteht man darunter ganz allgemein „the failure of markets to exist“ (Arrow 1977, S. 76). Steigende Skalenerträge, die Ökonomik von Kollektivgütern und externe Effekte stellen sich der Realisierung eines Allokationsoptimums in einem (‚reinen') marktwirtschaftlichen System in den Weg. Es ist also keineswegs so, dass bestehende Märkte nicht richtig funktionierten und in diesem Sinne ‚versagen', sondern dass es aus den verschiedensten Gründen nicht möglich ist, Märkte für bestimmte Aufgaben einzurichten. Z. B. verhindern prohibitiv hohe Markteinrichtungskosten, dass Märkte für externe Effekte entstehen; weil in den Genuss öffentlicher Güter Alle kommen und nicht nur, wer zahlt, können solche Güter nicht privat erstellt werden usw. Aus der Sicht der Marktversagens-Literatur besteht das Problem, das Konkurrenzmärkte aufwerfen, nicht in den potentiell negativen Folgewirkungen ihrer Existenz, sondern im mangelnden Vorkommen solcher Märkte
  • [2] Konkurrenz sorgt dafür, dass für alle gleichartigen Güter und Leistungen die gleichen Preise entrichtet werden. Differentielle Einnahmen für gleiche Leistungen fallen ihr zum Opfer
  • [3] Harrison und Bluestone (1988) sind mit der vieldiskutierten Behauptung eines „great U-Turn“ wieder steigender Einkommensungleichheit der US-Wirtschaft hervorgetreten. Alder-son und Nielsen (2002) erweitern die Hypothese eines „radical reversal of the Kuznetzian scenario of declining inequality with development“ (S. 1246) auf 16 OECD Länder
  • [4] Der Aufsatz von Sala-I-Martin (2006) richtet sich gegen zentrale Aussagen von Milanovic (2005)
  • [5] Die OECD (2008, Kap. 5) beobachtet allerdings einen Anstieg der relativen Armut für zwei Drittel ihrer Mitgliedsländer in der Periode von Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts. Die Einkommensschwelle für relative Armut, definiert als ein Einkommen von weniger als 60 % des Medianeinkommens, lag in der Bundesrepublik im Jahr 2011 für Ein-Personen-Haushalte bei 980 € (netto). Ob eine solche Armutsschwelle mit dem gewohnten Bild von Armut in Übereinstimmung zu bringen ist, mag jeder Leser für sich entscheiden. Kein noch so rasantes Wachstum kann an der so definierten Armut irgendetwas ändern
  • [6] Ich abstrahiere davon, dass mit unterschiedlichen Konsumptionsmustern der Beschäftigten auch die in den gekauften Waren inkorporierten Arbeitsmengen variieren. Mit der Wahl der Konsumgüter änderte sich dann auch der Grad der Ausbeutung
  • [7] Das gilt auch noch für die seit der großen Depression tiefste Rezession der Weltwirtschaft im Jahr 2009. Es kam zu einem Konjunktureinbruch, der nahezu alle Länder der Welt erfasste
  • [8] Vgl. z. B. Emmott (2003, S. 184): „There is little room for doubt about the fact that what would, but for government, have been a modest, conventional recession was turned into the most searing downturn of the century, probably of all history.“
  • [9] Shapiro und Stiglitz (1984)
  • [10] „Unemploment is untrended over the very long term“ (Layard et al. 1993, S. 5)
  • [11] Marshall (1950) hat in einem berühmten Aufsatz die Erringung von Sozialrechten in der Perspektive einer potentiellen Gefährdung kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien analysiert
  • [12] Für einen gerafften Überblick zu Entwicklungen in der deutschen Industrie- und Betriebssoziologie Minssen (2006), zur „radikalen politischen Ökonomie“ Bowles und Edwards (1990)
  • [13] Zur Rolle des Nichtwissens siehe nur Diamond (2005). Die radikalste Kritik am neuzeitlichen Naturverständnis ist wohl Heideggers Kritik an der Seinsvergessenheit der modernen Technik
  • [14] Bhagwati (2004) verteidigt Globalisierung gegen die geläufigen Einwände zunehmender Armut, grassierender Kinderarbeit, Benachteiligung der Frauen, Niedergang der Demokratie, Gefährdung der Kultur, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sinkender Entlohnung in den Industrieländern und wachsender Macht der Konzerne. Deutlich zurückhaltender urteilen Goldberg und Pavcnik (2007, S. 77) mit Blick auf die Ungleichheit in ausgewählten Entwicklungsländern: „The evidence has provided little support for the conventional wisdom that trade openness in developing countries would favor the less fortunate.“
  • [15] Siehe den Überblick über die Diskussion von Katz und Autor 1999
 
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