Die falschen Anleger und der schwarze Schwan
Wie schlimm war die Lage bei all den Abgesängen nun wirklich in Cupertino? Fest stand, dass die Gewinne zumindest im zweiten Quartal des Fiskaljahres schrumpfen würden. Die Börse, an der stets die Zukunft gehandelt wird, hatte ihr Urteil blitzschnell gesprochen: Das Beste lag offenbar hinter Apple. Der Computerpionier, der durch iPod, iPhone und iPad ein Jahrzehnt lang in verblüffenden Dimensionen gewachsen war, war plötzlich kein Wachstumsunternehmen mehr. Aktionäre würden künftig mit Dividenden und damit erstrebter günstiger Bewertung bei Laune gehalten werden.
Doch das waren wenig verlockende Versprechen, wie die jahrzehntelange Wertvernichtung anderer Tech-Dinosaurier wie Microsoft, Intel oder Cisco bewies. Apples Schicksal an den Aktienmärkten schien mit dem dramatischen Kurseinbruch besiegelt, der sich auch nach einem halben Jahr der immer weiter fallenden Kurse nicht zu bessern schien. Wie kam es, dass Apple als Investment plötzlich so vollkommen abgeschrieben war? „Wir befinden uns in einer der kontroversesten Phasen der letzten zehn Jahre in der Geschichte der Aktie“, erklärte etwa die Schweizer Investmentbank UBS die Achterbahnfahrt, die die Anteilsscheine durchlebten.
Doch es gab auch weitsichtige Investoren, die rechtzeitig ausgestiegen waren. Der Finanzprofessor Aswath Damodaran von der New York University etwa, der in Apple seit 1997 zu Kursen von 7 $ investiert war, hatte bereits im Frühjahr 2012 ein tiefgreifendes Problem in der Aktionärsstruktur erkannt – und nach 15 Jahren seine Anteile bei Kursen von um die 630 $ veräußert. Er erklärte das folgendermaßen: „Ich fühle mich sehr unwohl damit, welche Anleger heute Apple halten. Diese neuen Aktionäre ängstigen mich. Es sind Momentum-Investoren. Sie verändern die Spielregeln. Aus diesem Grund habe ich verkauft.“
Damit hatte Damodaran das eigentliche Problem angesprochen, das Apple auf dem Gipfel seiner immer noch nicht teuren Bewertung erreicht hatte – die Aktie war genauso in der Popkultur angekommen wie das Unternehmen. Jeder besaß sie. Selbst Hollywood-Ikone Barbra Streisand hatte bis in die tiefen 500 DollarKurse eine Liebesaffäre mit Apple. Gegenüber dem Time Magazine gestand die 71-Jährige, dass sie inzwischen trainiert sei, um 6.25 Uhr Westenküstenzeit aufzustehen, um Aktien zu handeln. Welche? „Apple, Apple!“
An dieser Stelle wird es bekanntlich gefährlich. „Verlieben Sie sich nie in eine Aktie“, hatte schon die Investoren-Legende Warren Buffett gewarnt. Viele AppleAnleger hatte ihre Liebe zu Produkten des boomenden iKonzerns über die Jahre auch an die Wall Street getragen, und Steve Jobs hatte sie mit Wertsteigerungen von in der Spitze 10.000 % reich belohnt. Was sollte schon schiefgehen?
Wie man an der Wall Street gerne sagt: Es geht so lange gut, bis es schiefgeht. Und als es ohne auch nur den Hauch einer Ankündigung im Herbst 2012 bergab ging, war gerade mal eine Handvoll von Investmentstrategen vorbereitet.
„Es scheint mir, dass Apple eine Aktie ist, an die jeder glaubt, es ist fast eine Obsession geworden“, gab sich Bond-Guru Jeff Gundlach von Doubline Capital seit Kursen von 600 $ extrem skeptisch. „Egal, in welches Meeting ich gehe, jeder besitzt Apple, dabei ist das Unternehmen nicht mehr der Produkt-Innovator, der es einmal war. Ich glaube nicht, dass sich die Leute fürs iPad 482 noch in die Schlange stellen.“
Gundlach bekannte, Apple sei „one of my favorite generational shorts“, also eine der besten Leerverkäufe seiner Investmentgeneration und fixierte ein harsches, aber äußerst prophetisches Kursziel: 425 $. Er sollte im März 2013 recht bekommen und weiter an seiner Legende stricken. Gundlach erklärte in der Stunde des Triumphs, dass Apples beispielloser Ausverkauf einmal mehr eine Absage für die Theorie der effizienten Märkte sei.
Tatsächlich ähnelte Apples Einbruch dem in der Investmentszene immer wieder bemühten Phänomen des Schwarzen Schwans, das der Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb im gleichnamigen Bestseller geprägt hatte. Taleb erklärt darin die Macht statistisch extrem unwahrscheinlicher Ereignisse, die durch gegenseitige Abhängigkeiten am Ende doch öfter vorkamen als erwartet.
Wie wahrscheinlich war nun im September 2012 ein Absturz der Apple-Aktie von 700 auf 420 $ im Umfeld eines steigenden Marktes? Dass heiß gelaufene Aktien mitunter heftig korrigieren, ist ein Phänomen, das Charttechniker immer wieder gerne für sich beanspruchen – doch war dies in einem Marktsentiment möglich, in dem der marktbreite S&P 500 Index im gleichen Zeitraum um acht Prozent zulegte und der Dow Jones sogar neue Allzeithochs aufstellte? Alles stieg, nur Apple fiel.
Auf dem Zenit seiner 33-jährigen Börsenhistorie hatte sich Apple über Nacht in einen solchen Schwarzen Schwan verwandelt – in ein höchst unwahrscheinliches, singuläres Ereignis. „Apples Performance in den letzten sechs Monaten ist eine Lehrbuchstudie in Marktpsychologie, die die Effizienzmarkttheorie eindrucksvoll widerlegt“, erklärte der Bonds-Großinvestor Gundlach. Apple sei ein herausragendes Beispiel dafür, dass sich Märkte nicht immer rational verhielten, sondern vielmehr psychologische Verhaltensmuster und Herdentrieb bei der Bestimmung des Aktienkurses eine große Rolle spielten.
Darauf hatte die ungarische Börsenlegende André Kostolany in zahlreichen Büchern bereits Jahrzehnte zuvor in seiner ganz eigenen Form hingewiesen: „Kurz- und mittelfristig macht die Psychologie an der Börse 90 % aus“, wusste Kostolany zu berichten, „Der Angst, alles zu verlieren, und der Gier, noch mehr Geld zu machen.“ Kostolany unterscheidet dabei im Wechselspiel der Anleger zwei Klassen – den „Hartgesottenen“ und „Zittrigen“: „Wenn sie sehen, dass die Kurse fallen, geraten sie in Panik und verkaufen alles“, hatte der Börsenaltmeister seinerzeit den Misserfolg vieler Anleger ohne echte Strategie – den sogenannten „zittrigen Händen“ – erklärt. „Den meisten Börsianern fehlen Geduld und Nerven, die zwischenzeitlichen Stürme und Gewitter auszusitzen“ – das können nur die „Hartgesottenen“.
Angesichts von Kurssteigerungen von 80 auf 700 $ in gerade mal dreieinhalb Jahren überrascht es nicht, dass bei Apple einige Anleger „zittrige Hände“ bekamen – sie hatten schließlich viel zu verlieren. Je später der Kauf, desto eher die Wahrscheinlichkeit, panisch zu verkaufen. Dieselben „falschen Investoren“, von denen Finanzprofessor Aswath Damodaran sprach, die Apple binnen nur zehn Wochen von 420 auf 640 $ befördert hatten, verließen – bildlich gesprochen – wieder fluchtartig den Handelsraum.
Damodaran fand sich als hartgesottener Antizykliker in der Gegenwelt wieder und nahm den Zittrigen ihre Papiere gerne ab: Er kaufte unter 500 $ zu, weil er Apple inzwischen in einer anderen Assetklasse angekommen sah, wohl wissend, dass dieser Prozess aber etwas dauern könnte. Mit einem KGV von unter 10 war Apple plötzlich zur Value-Aktie geworden. „Apple ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % unterbewertet“, erklärte der Professor der New York University Anfang Februar. Selbst Jefferey Gundlach ging der Ausverkauf von Apple nach Erreichen der 425-Dollarmarke zu weit; er sollte als „Hartgesottener“, wie André Kostlany die antiyzyklischen Investoren bezeichnete, unterhalb seines eigenen Kursziels von 425 $ ebenfalls auf die Käuferseite wechseln. Doch ein Turnaround zeichnete sich immer noch nicht ab…