Die Analyse von Transkripten einer Schulstunde als kognitiver Prozess

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3.1.1 Daten als Ergebnis eines Herstellungsprozesses

In der Regel werden Daten als Ausgangspunkt für die analytische Arbeit gewählt. Dabei ist oftmals nicht im Fokus der Aufmerksamkeit, dass diese Daten das Ergebnis eines Herstellungsprozesses sind, innerhalb dessen schon eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen wurde. Mit Blick auf das von den Initiatoren und Referenten der Tagung ausgewählte Transkript einer Schulstunde können u. a. folgende Vorentscheidungen festgehalten werden: Entscheidungen über die Auswahl der Schule (Gymnasium in Österreich), der Klasse (Jungenklasse), des Faches (GSK) und des Unterrichtsthemas (Nationalsozialismus), der Lehrkraft, der konkreten Unterrichtsstunde (Einsatz des Films „Swing Kids“) und der Schüler, die für ein Interview eingeladen wurden und deren Notizen dokumentiert wurden. Die Datenerhebung kann als „Herstellungsprozess von Daten“ (Strübing 2008, S.

290) verstanden werden. „So gesehen sind Daten nicht ‚Rohmaterial', mit dem die Forschung beginnt, sondern die Repräsentation einer dynamischen Beziehung zwischen Forschungsfrage, Feld und Forschern, die im Verlauf der analytischen Arbeit herausgebildet wird“ (ebd., S. 293). Die Einigung auf die Auswahl des Transkripts dieser Schulstunde durch die Initiatoren der Tagung und der an ihr mit eigenen Beiträgen beteiligten Wissenschaftler/innen (Andreas Gruschka, Oliver Hollstein, Georg Breidenstein, Sabine Reh) war vermutlich von jeweiligen Annahmen über Unterricht mit bestimmt, ohne dass auf der Tagung die Hintergrundüberlegungen expliziert wurden.

Welche Transkripte wären unter meiner Fragestellung nach den Lehrund Lernhandlungen, also nach ‚Unterricht' im Rahmen einer ‚Schulstunde' geeignet? Meine Wahl eines Transkriptes (z. B. aus dem Frankfurter Archiv für Pädagogische Kasuistik) für eine gemeinsame Diskussion wäre anders ausgefallen, denn in dem für die Tagung für eine Diskussion ausgewähltem Transkript sind Lehrresp. Lernhandlungen von Lehrkraft und Schülern nur ansatzweise zu erkennen, wird doch ein beachtlicher Teil der Unterrichtsstunde mit dem Betrachten von Filmausschnitten verbracht. Diese können jedoch über ein Transkript nur bedingt erschlossen werden.

3.1.2 Allgemeine Überlegungen zur Analyse von Schulstunden

Eine Analyse von Schulstunden auf der Basis von Transkripten der durch Audiooder Videoaufzeichnungen erfassten Abläufe und deren Verschriftlichung können zum Erkennen dessen verhelfen, was im Klassenzimmer geschieht. Dabei ist zu vergegenwärtigen, dass das Transkript selbst ein „Kunstprodukt“ ist. Es basiert nicht nur auf dem, was in der Schulstunde geschah, sondern darauf, was ein Beobachter protokollierte oder was ein Aufnahmegerät oder eine Kamera (oder mehrere technische Geräte) aufnahm(en).

„Immer handeln und kommunizieren also (mindestens) zwei Parteien: die vor der Kamera und die hinter der Kamera „diejenigen, die aufnehmen, die das Aufgenommene bearbeiten und damit abschließend entscheiden, was sehenswert und was unwichtig ist“ (Reichertz und Englert 2011, S. 26). Übertragen wir diese Überlegungen auf das Filmen von Unterrichtsstunden, findet hier eine Entscheidung über die Ausrichtung einer oder mehrerer Kameras und damit über die Bildausschnitte statt. Die Kamera entscheidet mit darüber, was anschließend durch die Betrachter des Videos gesehen werden kann. Damit weist die Kamera nicht nur auf etwas hin, „vielmehr schafft sie selbst ein Bild, das sie dem Betrachter vor die Augen hält“ (ebd., S. 26). Der/die jeweilige Filmer/in schafft durch die Richtung der Beobachtung und die Kameraführung einen eigenen Deutungsrahmen. Die Filmer/ innen konstituieren durch ihre Anwesenheit und durch ihr Handeln, Tun und Verhalten die soziale Tatsache Unterricht mit. Das Verhalten, Tun und Handeln der Schüler/innen vor der Kamera, in Abwesenheit der Lehrkraft und das Verhalten der Filmer/innen (das unsichtbar bleibt), müsste bei der Auseinandersetzung mit dem Transkript mit einbezogen werden. Die Umsetzung der Aufzeichnungen der Kamera in einen Text (durch eine Transkription) enthält vor allem diejenigen Momente des Unterrichts, die als sprachliche Handlung erfolgen. Gegebenenfalls werden im Transkript weitere Aspekte notiert; diese sind abhängig von der Wahrnehmung, Gewichtung und z. T. Interpretation der Person, die das Transkript erstellt.

Transkripte einer Schulstunde, die auf der Grundlage von Audiooder Videoaufzeichnungen erstellt wurden, sind Texte. Sie enthalten meist keine oder nur wenige Informationen über das Handeln der Personen im Raum oder über ihre Mimik und Gestik, sondern dokumentieren die Gesprächsakte von Lehrpersonen und Schüler/innen im Unterrichtsverlauf. Will man auf der Grundlage von Transkripten zu Erkenntnissen über den Unterricht gelangen, können auf ihrer Grundlage zu bestimmten Aspekten (Position der handelnden Personen im Raum, Körpersprache, nonverbale Interaktion) keine oder nur ganz begrenzte Aussagen gemacht werden. Transkripte als Texte können allein oder zu mehreren (mehrfach) gelesen, analysiert und gemeinsam besprochen werden. Am Material können Entdeckungen gemacht, am Text belegt und so Erkenntnisse gewonnen werden. An die Texte können Fragen herangetragen und vorsichtige Vermutungen oder Schlussfolgerungen gezogen werden. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung anhand der Transkripte kann (mehrmals) verändert werden (vgl. Kiper 2013a).

Die Analyse von Schulstunden auf der Grundlage von Transkripten verstehe ich als einen Rekonstruktionsprozess, um Erkenntnissen über den Unterricht, oft unter spezifischen Fragestellungen, zu gewinnen. Für die Analyse durch eine Person, die selbst nicht teilnehmende/r Beobachter/in resp. Filmer/in war, sind kognitive Prozesse wie Lesen, Analysieren, Zuordnen, Schlussfolgern und Bewerten erforderlich. Die kognitiven Aktivitäten bei der Analyse von Schulstunden zielen darauf, ein inneres Modell vom Unterricht und von seinem Verlauf und von den hierbei relevanten Situationen und Prozessen zu erarbeiten. „Unterrichtsanalyse ist der Versuch, bestimmte Vorgänge, Zusammenhänge, Elemente, Ereignisse, Zustände zu erfassen (…)“ (Bachmair 1976, S. 18ff). Das (Vor-)Wissen über Unterricht geht dabei in die Art der Rekonstruktion, Analyse und Bewertung mit ein. Bei der Analyse ist nach Regeln vorzugehen (Bachmair 1971, S. 407). Es ist anzugeben, welche Interessen die Analyse leiten, welches Vorverständnis von Unterricht bestimmend ist, innerhalb welches Bezugsrahmens die Analyse vorgenommen wird und unter welchen Fragestellungen der Unterricht betrachtet werden soll. Interessiert man sich für den Unterricht und die dort initiierten Lernhandlungen der Schüler/ innen im Verlauf (vgl. Kiper 2012, S. 134ff), macht es Sinn, den Prozessverlauf in Sinneinheiten zu unterteilen. Dabei kann der Prozess auf dem Hintergrund des Wissens um Schritte in der Artikulation des Unterrichts unterschieden werden oder – als kleinere Sinneinheiten – die jeweiligen Interaktionszüge gewählt werden, die den weiteren Verlauf der Ko-Produktion im Unterricht mit beeinflussen (vgl. Kiper 2013a, S. 12f).

3.1.3 Eigene sachlich-fachliche und didaktische Überlegungen als Hintergrundtheorie für die Analyse des Transkripts

Wenn eine Analyse von Unterricht stattfinden soll, kann das scheinbar naiv – am vorgelegten Transkript entlang – erfolgen. Mir scheint es aber notwendig, um überhaupt etwas sehen zu können, eine Auseinandersetzung mit dem fachlichen Inhalt (hier: Swing Kids in Hamburg) und dem Film „Swing Kids“ vorzunehmen und zu antizipieren, ob eine Thematisierung in dieser Schulstufe sinnvoll erscheint und wie eine zielführende Auseinandersetzung mit diesem fachlichen Inhalt aussehen müsste. Solche vorausgehenden Überlegungen, die – in schulpädagogischen Kategorien gedacht – im Rahmen einer Sachanalyse und einer didaktischen Analyse stattfinden müssten, wären zunächst vorzunehmen, bevor genauer über die intendierten Lehrund Lernprozesse (auf der Grundlage einer Lernstrukturanalyse) nachgedacht werden müsste. Diese Überlegungen könnten zur Hintergrundfolie werden, um – in der Auseinandersetzung mit dem Transkript der Stunde – erkennen zu können, was in der Schulstunde stattfindet und um anhand eines Standards einschätzen zu können, was eigentlich stattfinden müsste und wo gelingende resp. problematische Momente vorliegen. Kurz: Um mehr erkennen zu können als das, was sich im Unterricht ereignet, sind auf der Grundlage von Gedankenexperimenten oder eigenen Planungen zu vergleichbaren Zielen und Inhalten eigene fachliche Analysen und Überlegungen zu den kognitiven Prozessen der Aneignung der Inhalte vorzunehmen. Diese können – als Prüffragen an das Transkript gewendet und als eigenständig entwickeltes Alternativmodell im Kontrast – dabei helfen, etwas zu erfassen, was in der Schulstunde geschehen sollte, was aber ggf. nicht erfolgt. Evtl. Probleme im Unterrichtsverlauf können erkennbar werden, wenn eigene Planungsund Durchführungsüberlegungen dem Transkript kontrastierend gegenüber gestellt werden. Erst am Ende dieser Prozesse ist ein Kriterien geleitetes Beurteilen (Billigen/Nichtbilligen resp. Würdigen/Kritisieren) möglich (vgl. auch Reusser und Reusser-Weyeneth 1994, S. 9).

Für die Analyse ausgewählter Schulstunden auf der Grundlage von Transkripten sind in besonderer Weise solche geeignet, die einen ‚Unterricht' im Modus des Gesprächs zeigen. Ein Unterricht mit anderen Lernarrangements, z. B. durch ein Angebot von Experimenten, die in verschiedenen Gruppen von Schüler/innen geplant, durchgeführt und ausgewertet werden, muss anders videographiert und transkribiert werden. Das Transkript einer Schulstunde, in der ein Film gezeigt wurde, wird sich sicherlich nicht nur auf den transkribierten Text des Films beschränken können, sondern wird den Film selbst, der hier zum Einsatz kam, für die Analyse mit heranziehen müssen.

Aus den dargelegten Überlegungen, wie ein Unterricht zum Thema „Swing Kids“ aussehen müsste, könnte man, mit Blick auf gewünschte Bildungswirkungen anstreben, dass es durch das Zeigen des Films „Swing Kids“ und seiner Besprechung mit dem Ziel der Reflexion seines Inhalts nicht nur darum gehen dürfte, Wissen über die Swing Kids zu vermitteln resp. anzueignen, sondern auch die Fähigkeit zur Filmanalyse erwerben zu lassen resp. zu erwerben. Darüber hinaus geht es in Auseinandersetzung mit dem Handeln der Protagonisten darum, sich berühren zu lassen und zu fragen, was aus der gedanklichen Auseinandersetzung mit ihrem Handeln für das eigene Leben, die eigenen Wertvorstellungen und die Bereitschaft zum eigenen Handeln resultieren könnte.

 
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