Die angeeignete physische Landschaft

Die angeeignete physische Landschaft wird von denjenigen Objekten des physischen Raumes (einschließlich eines virtuell erzeugten physisch erscheinenden Raumes) gebildet, die für die Konstruktion von gesellschaftlicher Landschaft und ihrer individuellen Aktualisierung herangezogen werden. Unter Aneignung wird dabei eine Zuweisung von Bedeutung verstanden, die sich zwar individuell, aber gesteuert von sozialen Ressourcen und Anerkennungsmechanismen vollzieht (Hall 1980). Die angeeignete physische Landschaft lässt sich als ein Hybrid sowohl als Teil der Welt 1, der physischen Welt, begreifen, als auch als Teil der Welt 3, der Welt der geistigen und kulturellen Gehalte, oder als Teil von Welt 1 und 2, also der Welt der individuellen Wahrnehmung und des Bewusstseins, in Abhängigkeit davon, ob die aneignete physische Landschaft individuell oder überindividuell verstanden wird. Die angeeignete physische Landschaft umfasst diese physikalische Welt nicht vollständig, sondern selektiv, weil nicht alle Objekte des physischen Raumes als Landschaft synthetisiert werden. Sie lässt sich in eine gesellschaftliche angeeignete physische Landschaft und eine individuell aktualisierte angeeignete physische Landschaft gliedern: Die gesellschaftliche angeeignete physische Landschaft umfasst alle Objekte des physischen Raumes, die als Landschaft beschrieben werden (können), während die individuell aktualisierte angeeignete physische Landschaft sich auf jene Objekte beschränkt, die durch eine Person für die Konstruktion von Landschaft herangezogen werden. Die individuell aktualisierte angeeignete physische Landschaft ist also stets eine nicht-leere Teilmenge der gesellschaftlichen angeeigneten physischen Landschaft, im extremen Falle sind die individuell aktualisierte angeeignete physische Landschaft und die gesellschaftliche angeeignete physische Landschaft deckungsgleich, wenn eine Person sämtliche gesellschaftlich für die Konstruktion von Landschaft akzeptierten Objektbezüge herstellt (Abbildung 11).

Die angeeignete physische Landschaft lässt sich in doppelter Hinsicht als weitgehend instabil[e] (Mrass 1981: 29) Folge und Nebenfolge sozialen Handelns beschreiben: Sowohl auf der Ebene der physischen Manifestationen sozialen Handelns als Anordnungen von sozialen Gütern und Lebewesen als auch auf der Ebene der gesellschaftlichen

Abbildung 11 Graphisch abstrahierter Zusammenhang von gesellschaftlicher angeeigneter physischer Landschaft und individuell aktualisierter gesellschaftlicher Landschaft als Teilmengen sämtlicher gesellschaftlicher Raumbezüge.

Landschaft ist sie ein Nebeneinander von langfristigen und kurzfristigen, von latenten und manifesten Entwicklungen (Békési 2007: 23, vgl. auch Henderson 2003)[1].

Das ästhetische Verhältnis zwischen individuell aktualisierter gesellschaftlicher Landschaft und angeeigneter physischer Landschaft kann stärker kognitiv oder stärker emotional ausgeprägt sein (vgl. auch Ipsen et al. 2003; ein nicht ästhetisches kognitives oder emotionales Verhältnis zu angeeigneter physischer Landschaft ist wird dem hier vorgeschlagenen Landschaftsbegriff gefolgt nicht möglich, da der ästhetische Modus der Betrachtung konstitutiv für Landschaft ist). Entsprechend des Grades an Emotionalität bzw. Kognitivität lassen sich die Modi ästhetischer Erfahrung nach Schweppenhäuser (2007) in ihrer Relation zwischen individuell aktualisierter gesellschaftlicher Landschaft und angeeigneter physischer Landschaft einordnen: Ist der kontemplative Modus dieser Relation vorwiegend durch eine eher passive Verweisrichtung zum Individuum geprägt, sind der Kritik- und der Differenzmodus durch kognitives Durchdringen des Untersuchungsobjektes angeeignete physische Landschaft geprägt. Gerade der pragmatische Zugang zu Landschaft ist empfänglich für Atmosphären, die sich zwischen Individuum und physischem Raum in Form affektiv-emotionaler Betroffenheit entwickeln (Hasse 1993 und 2000, Seel 1996)[2]. Der pragmatische Modus nimmt eine doppelte Zwischenstellung ein, da er einerseits emotionale wie kognitive, andererseits auch aktive und passive Elemente enthält.

Angeeignete physische Landschaft entsteht häufig durch Ästhetisierung des physischen Raumes, wenn physischer Raum entweder vom Menschen auf Ebene der für die gesellschaftliche Landschaft irrelevanten Objekte unbeeinflusst oder zwar auf Ebene der für die gesellschaftliche Landschaft als relevant eingestuften Objekte beeinflusst wurde, diese Beeinflussung aber im übermikroskaligen Maßstab nicht unter einem ästhetischen, also einem anästhetischen, Modus erfolgte (Abbildung 12). Im Folgenden wird diese angeeignete physische Landschaft als primäre bezeichnet, da diese Art der Landschaftskonstruktion historisch als früher einzustufen ist. Die primäre angeeignete physische Landschaft definiert eine klare Trennung zwischen Insider und Outsider (Olwig 2008): Der Outsider ist das Landschaft individuell aktualisiert konstruierende Individuum, während die Insider jene sind, die die physischen Grundlagen angeeigneter physischer Landschaft in unreflektierter Tradition (Olwig 2008: 40) erzeugt haben.

Angeeignete physische Landschaft kann aber als Landschaft (zumindest teilweise) konzipiert werden, wenn bei ihrer Planung ein ästhetisch-landschaftliches Kalkül im übermikroskaligen Bereich bestand (ein Park ist ein Beispiel hierfür). Diese Art Landschaft wird im Folgenden als sekundäre angeeignete physische Landschaft bezeichnet,

Abbildung 12 Die idealtypische Entstehung primärer und sekundärer angeeigneter physischer Landschaft [3]

sie ist eine Landschaft der Kunst (im Sinne von Danto 1996), da sie im Wissen über ästhetische Bezüge einen übergegenständlichen Bezug aufweiset (Danto nennt diesen Bezug aboutness) und eine Differenzierung der Insider/Outsider-Dichotomie im Sinne Olwigs (2008) dar stellt. Ist es die Intention des Planers oder Architekten, dass der von ihm gestaltete physische Raum unter dem Modus des Kunst- und nicht des Naturschönen betrachtet wird (und damit als primäre angeeignete physische Landschaft), muss anhand der Gestaltung bzw. Anordnung von Gegenständen eine gemäß den allgemein oder subkulturell verankerten Kenntnissen der gesellschaftlichen Landschaft Distanz zu einer unintendierten Anordnung geschaffen werden: Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewusst sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht (Kant 1956, zuerst 1790: 179)[4]. Hierzu muss die Zeichenhaftigkeit der sekundären angeeigneten physischen Landschaft als ästhetische Funktion über die Botschaft eines Gebrauchswertes von Landschaft hinaus (z. B. als Siedlung, landwirtschaftliche Fläche etc.) deutlich werden: Die Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wenn sie sich als zweideutig strukturiert darstellt und wenn sie als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) erscheint, d. h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre eigene Form lenken will (Eco 1972: 145146; vgl. auch Fischer, N. 2001). Eine angeeignete physische Landschaft wird also dann als Kunstwerk wahrnehmbar, wenn eine ästhetische Funktion überwiegt und auch gemäß den in der gesellschaftlichen Landschaft bereit gehaltenen Interpretationsmustern in Differenz zu nicht mit ästhetischer Funktion belegter angeeigneter physischer Landschaft individuell decodierbar ist[5].

  • [1] Diese Erkenntnis ist nicht neu, bereits 1937 verwies Horkheimer (1977: 17, zuerst 1937) auf die Koevolution von Gesellschaft und (physischem) Raum: Die Tatsachen, die uns die Sinne zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.
  • [2] Gernot Böhme (1995) weist Atmosphären darüber hinaus eine eigenständige Wirklichkeit zu, die sich insbesondere nicht im Zeichenhaften begrenzen lässt.
  • [3] Auch zwischen primärer und sekundärer angeeigneter physischer Landschaft sind Hybridisierungen die Regel, da in der Regel nur ein Teil einer Gesamtmenge von Objekten auf planerische Konzeptionen zurückgeht.
  • [4] In der Terminologie Ingardens (1969) ließe sich auch von ästhetischen Gegenständen sprechen, Gegenständen also, die durch die ästhetische Wahrnehmung eines Gegenstandes gebildet werden, wobei zwischen nichtkünstlerischen und künstlerischen Gegenständen zu unterscheiden ist, in Abhängigkeit davon, ob der Gegenstand mit künstlerischer Intention gestaltet wurde.
  • [5] In Bezug auf die sekundäre angeeignete physische Landschaft lässt sich eine wesentliche idealtypische Unterscheidung treffen: Wird sie bzw. die sie gemäß dem Fundus der gesellschaftlichen Landschaft konstituierenden Objekte als Ergebnis freier künstlerischer Tätigkeit objektiviert oder ist sie das Ergebnis angewandter Kunst? Da selbst der Französische Garten nicht allein als Ausdruck freier Kunst zu verstehen ist, da er i. d. R. auch für nicht-künstlerische Funktionen konzipiert wurde, schließlich diente und dient auch dieser z. B. als Kulisse für Feierlichkeiten, ist auch hier von einer Hybridisierung, in diesem Falle von freier und angewandter Kunst, auszugehen.
 
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