Landschaft und Kitsch die modernistische und die postmodernistische Perspektive

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Im Kontext der Landschaft als konstitutiv ästhetisches Gebilde stellt sich die Frage, inwiefern Landschaft in modernistischer Perspektive als kitschig (re)konstruiert werden kann[2]. Sowohl die Entwicklung des Kitschals auch des Naturschutzdiskurses wurde im Zusammenhang mit der Modernisierung der Gesellschaft um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert intensiviert. Für beide Diskurse wirkten Verlusterfahrungen des so genannten Authentischen begründend (nicht nur in Deutschland, den Niederlanden und Italien, sondern auch in Großbritannien und Nordamerika als ein wesentliches Element auch in der Romantik; vgl. Pregill/Volkman 1999, Rogers 2007, Safranski 2007, Kirchhoff/Trepl 2009): Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Marktwirtschaft ausgehend von den Städten auch die physischen Strukturen ländlicher Räume verändert, neue Fruchtfolgen, das Aufkommen neuer Dünger, neuer Landwirtschaftstechnik, Meliorationen u. a. hatten die Grundlage für landschaftliche Ästhetisierungen deutlich verändert (Pregill/Volkman 1999, Eisel 2009). Das Ziel der aufkommenden Bewegung zur Bewahrung der wahren Kultur durch ästhetische Erziehung, Geschmackskultivierung, Volksbildung und Konsumentenerziehung war gegen die einsetzende Massenkultur gerichtet (Maase 2001)[3]. Doch bereits zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war der Code von Landschaft popularisiert (vgl. Burckhardt 1977 und Hard 1977)[4]. Mit der Massenmotorisierung wird Landschaft nahezu allgemein verfügbar (Lippard 1999) und als gute Aussicht konsumiert (Vöckler 1988): Reiseführer, Touristenbroschüren und Filme bestimmen Fahrern und Passagieren, was sehenswert ist und was zu meiden (Mauch/Zeller 2008: 1). Die gute Aussicht ist so Monnet (2001: 289) deswegen populär, weil der Blick von einem hohen Aussichtspunkt die alltagsweltliche Routine der bodennahen Betrachtung gebrochen wird. Dabei synthetisieren Touristen die unterschiedlichen Objekte unterschiedlicher Herkunft auf Grundlage ihrer stereotypen sozialen Klassifikationsmuster und von Antizipationen, insbesondere durch Tagträumen und Fantasie (Urry 2002: 3), unabhängig von den (auch landschaftlich bezogenen) alltäglichen Lebenswelten, so dass eine kollektive, touristische Version von anderen Menschen und anderen Orten entsteht (MacCannel 1976: 13; vgl. auch Jakle 1987, Andrews 1989, Lippuner/Redepenning/Schneider 2010). Die automobile und gefahrlose Verfügbarkeit angeeigneter physischer Landschaft hat deren gesellschaftlich-landschaftliche Zuschreibungen verändert (Koshar 2008: 25): Die Landschaftserfahrung verschob sich von Wildnis in einem Pioniermodus zu einer kommerziell gesteuerten Kette von natürlichen und städtischen Aussichtspunkten. Angeeignete physische Landschaft wird zu Erfahrung aus zweiter Hand, [zu] vorgetäuschte[r] Empfindung (Greenberg 2007, zuerst 1939: 206); aus Sicht der Paretoschen Residuen- und Derivationen-Theorie treten hier insbesondere Residuen der Klasse I (Instinkt der Kombinationen) und Klasse II (Persistenz der Beziehungen eines Menschen mit anderen und mit Orten) zutage, die mit Hilfe von Derivationen der Klasse II in Rückgriff auf allgemeine Autoritäten der Landschaftsdeutung Umsetzung finden.

Im Sinne von Gelfert (2000) wurde die ästhetische Betrachtung von Landschaft seicht, kommerzialisiert, unecht, da vielfach reproduziert und somit dem seinen eigenen Genuss genießenden Kitsch-Menschen zum Gegenstand. Landschaft als Kitsch wurde aber auch Ausdruck einer sentimentalen Stimmung für den modernen Intellektuellen (Gelfert 2000: 10; dies betrifft insbesondere die Vertreter des Paradigmas der Erhaltung und Widerherstellung physischer Landschaft)[5]. Eine Kitsch-Kommunikation im Sinne einer nicht materialgerechten Kunst schließlich entsprechen die idealisierten angeeigneten physischen historisch gewachsenen Kulturlandschaften selten den Anforderungen ökonomischer Landbewirtschaftung auf der Ebene der ganz großen Gefühle (Spanier 2006: 31) ist um das Themenfeld Landschaft und Nachhaltigkeit entstanden (im Sinne Paretos ein Residuum der Klasse III Bedürfnis nach Gefühlsausdruck durch äußere Handlungen). Sie lässt sich auch aus moderner Perspektive, z. B. im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie, als eine Transformation einer ökologischen und einer ästhetischen Veränderung zu einem moralischen Problem im Sinne einer moralischästhetischen Verschmelzung verstehen (vgl. Illing 2006, Kühne 2008a und 2008b)[6]. Im Zentrum der landschaftsbezogenen Überlegungen der Vertreter des Paradigmas der Erhaltung und Widerherstellung angeeigneter physischer Landschaft steht die Erhaltung (historischer) Kulturlandschaften (vgl. z. B. Wöbse 1994 und 1999, Wagner 1999).

Vergangenes wird bei diesem Paradigma gemäß Becker (1998: 51) dadurch bestimmt,

dass die geschichtlichen Strukturen, die die Landschaft oder Landschaftsbestandteile hervorgebracht haben, selbst zur Historie geworden sind und nicht mehr den gegenwärtigen gesellschaftlichen, technischen und rechtlichen Strukturen entsprechen. Diese angeeigneten physischen Landschaften sind also wie es Soyez (2003: 31) in Anlehnung an Werlen (2000) formuliert , längst der raumzeitlichen Entankerung anheimgefallen. Infolge einer solchen raumzeitlichen

Entankerung entspricht der Soll-Zustand der physischen Landschaft nicht dem Zustand, der sich als Nebenfolge aus modernen gesellschaftlichen Entwicklungen ableitet, sondern bedeutet eine historisierende Idealisierung (als Ergebnis der Residuen der Klassen I und II), eine Idealisierung, die sich auch aus der Sehnsucht nach vormoderner Wiedervergemeinschaftung (als Residuum der Klasse IV) ableitet und sich als Sehnsucht nach regionaler Wiedervereinigung von Natur und Kultur rekonstruieren lässt (vgl. hierzu Körner/Eisel 2006)[7]. Diese Deutungen werden von der Tourismuswerbung aufgegriffen und vermarktet. Dabei wird auf die in der primären Sozialisation angelegten landschaftlichen Stereotype zurückgegriffen, wodurch aus modernistischer Perspektive schamlos der vulgäre Geschmack der Massen bedient (Gelfert 2000: 7) wird. Historisierte angeeignete physische Landschaft wird ähnlich der die historische Kulturlandschaft konstituierende ehemals authentischen Volkskultur in Kitsch verwandelt, weil sie als Ausdruck einer tatsächlich nicht mehr vorhandenen Authentizität vermarktet wird (Gelfert 2000: 15, siehe auch Jakle 1987, Löfgren 2002, Henderson 2003, Zukin 2008, Wöhler 2010). Diese Deutung der Sehnsucht nach Volkskultur als Ausdruck der Überhöhung des einfachen, harten, ursprünglichen und gemeinschaftlichen Landlebens in einer ländlichen Landschaft findet sich beiderseits des Atlantiks und beinhaltet die Vorstellung eine idyllische Harmonie zwischen Menschen und Natur (Wright 2003: 164, vgl. auch Cosgrove 1994, Höfer 2001, Henderson 2003, Hardinghaus 2004, Vicenzotti 2005, Körner/Eisel 2006)[8]. In Nordamerika wird diese Vorstellung durch den Wilden Westen dominiert, der sich weniger auf das Leben vorindustrieller Farmer als das von Männern, die den Unbilden der Prairie trotzen (Kocks 2000; ähnl. Worster 1992, Campbell 2000)[9]. Die diese Volkskultur symbolisierende vorindustrielle Landschaft wirkt Jackson (1984) zufolge deswegen attraktiv, weil ihre Objekte und Objektanordnungen mit Leichtigkeit deutbar und ästhetisch stereotypisierbar sind[10]. Wobei

Inhalte solcher landschaftlich-vaterländisch-heimatlich-ökoidyllischer Raumabstraktionen (Hard 1987a: 230) simplifizierte Programme und Ordnungsbilder mit dem Effekt der distanzlosen Sentimentalisierung als durchgängige Überschwemmung der erlebten Wirklichkeit mit dem eigenen subjektiven Gefühl (Gelfert 2000: 77), also aus modernistischer Perspektive letztlich Verkitschungen, darstellen (vgl. Gelfert 2000)[11].

Ein weiteres wesentliches Element des Paradigmas der Erhaltung angeeigneter physischer Landschaft (sowohl im Bereich des Naturschutzes als auch des Denkmalschutzes) ist das Motiv des Helfens. Ein Mechanismus, der über das Transmissionskonstrukt

Natur bzw. Denkmal zum Zwecke der Generierung von sozialer Anerkennung in jeweils für die eigene Person relevanten Gruppen genutzt werden kann. Helfen lässt sich mit Paris (2005: 25) als Macht ohne Eigennutz, aber mit Selbsterhöhung und somit als Form des Strebens nach Anerkennung deuten[12]. Verkitschungen haben eine zentrale Bedeutung in Bezug auf die soziale Konstruktion von Landschaft: Verkitschungen dienen als Entkomplexisierung von Welt (vgl. Luhmann 1984 und 1997a, Kühne 2008) und sind Teil einer Ablehnung des Komplexen zugunsten des Einfachen (Gelfert 2000: 72). Damit dienen sie unter der Hinnahme eines Kontingenzverzichts (bzw. eines Hinwirkens darauf) der Aufrechterhaltung alltagspraktischer Handlungsfähigkeit.

Diese Betrachtungen der Reflexion der Landschaftsvorstellungen von Landschaftslaien und -experten an den von Gelfert (2000; vgl. Abschnitt 2.3.3) herausgearbeiteten Aspekten der Kitschdiskussion beschränken sich auf die ersten sechs der sieben Aspekte. In diesem Abschnitt wird der siebte Aspekt, jener der postmodernen Relativierung des Kitsches, behandelt. Der Gegensatz von Hochkultur und Trivialkultur (mit dem Ausdruck des Kitsches) gliedert sich in eine Reihe sich ausschließender fundamentaler Gegensätze eines modernistisch-abendländischen Denkens, wie auch jene von männlich und weiblich, von Natur und Kultur, von Zivilisation und Kultur[13], von Krieg und Frieden und nicht zuletzt Stadt und Landschaft, ein (vgl. Fuller 1992, Zierhofer 2003, Beck 2006, Kühne 2006a), die im postmodernen Denken zugunsten von Hybrid- und Pastichebildungen aufgegeben werden (vgl. Lash 1990, Vester 1993, Welsch 2002, Rancière 2004, Kühne 2006a)[14]. Im postmodernen Denken fungiert Kitsch nicht mehr als falscher Ausdruck falscher Bedürfnisse, auch nicht als Ausdruck richtiger Bedürfnisse, sondern Kitsch, so will es zumindest die Toleranzästhetik unserer Tage, gilt als richtiger Ausdruck richtiger Bedürfnisse (Liessmann 2002: 2627). Das ironisierende postmoderne Denken impliziert ein Bekenntnis zu den Schönheiten des Kitsches, all jenem, das die radikale Moderne und die politische Aufklärung dem Menschen verweigern wollte: Gegenständlichkeit, plakative Gefälligkeit, sinnliche Religiosität, sentimentale Stimmungen, Sonnenuntergänge, den C-Dur-Akkord, den Endreim, die Tränen des Glücks und eine ungebundene Lust am Exotischen (Liessmann 2002: 74), aber eben auch romantisierte liebliche, pittoreske und/oder erhabene Landschaft (vgl. auch Rogers 2007).

Das Paradigma der Erhaltung und Wiederherstellung physischer Landschaft greift in seiner grundsätzlichen Ausrichtung hinsichtlich der Wertschätzung des Historischen ein wesentliches Merkmal des postmodernen Denkens auf. Es ist jedoch anfällig für eine So-und-nicht-anders-Ideologie und ist zudem von modernistischem Denken geprägt (vgl. Kühne 2006a und 2008b) und ist somit gemessen an den Überlegungen von Moderne und Postmoderne in sich widersprüchlich bzw. hybrid. Mit der postmodernen Aufhebung von Kitsch und Hochkultur eröffnet sich für Vertreter des Paradigmas der Erhaltung und Widerherstellung angeeigneter physischer Landschaft wie für den Sukzessionismus die Möglichkeit eines den modernen ästhetischen Kategorien entrückten inklusivistischen (im Anschluss an Sloterdijk 1987) Landschaftsbegriffs. Ein solcher post-exklusivistischer Landschaftsbegriff impliziert die Abkehr von den sich ausschließenden Prinzipien der moralischen Gut-Schlecht-Gegensätze ebenso wie die landschaftliche Betrachtung des Städtischen. Die Abkehr des Denkens in streng definierten Grenzen und eine Zuwendung zur Konstruktion von weichen Übergängen als Rändern (Ipsen 2006), eine (gleichberechtigten) Integration von Laien in die Planung wie auch eine vorbehaltslose Überprüfung von landschaftlichen Stereotypen, ermöglicht es, lokalen Gesellschaften dialogisch ihre eigenen gemeinsamen Vergangenheiten [zu] definieren (Hayden 1997: 48), ohne Anspruch auf exklusivistische Deutungshoheiten[15]. Diese Soll-Vorstellungen unterliegen in der Postmoderne nicht länger dem Kitschverdacht, bei gleichzeitiger Erosion des Expertentums durch die Aufgabe des Anspruchs auf Deutungshoheit (vgl. Bauman 1973, Brown 1989, Hartz/Kühne 2007, Tessin 2008). Die postmoderne Aufhebung der Paradigmen der Erhaltung und Widerherstellung angeeigneter physischer Landschaft und der sukzessionistischen Entwicklung angeeigneter physischer Landschaft impliziert auch eine Neuinterpretation von Landschaft und damit eine zumindest teilweise Hinwendung und Öffnung zu dem Paradigma der Umdeutung der gesellschaftlichen Landschaft[16].

  • [1] Bei diesem Abschnitt handelt es sich um eine weiterentwickelte und dem hier vorliegenden Kontext angepasste Fassung von Kühne (2009b).
  • [2] Dass Landschaft als kitschig bewertet wird, ist für Eisel (2001) ein Indikator für die Nähe von Landschaft und Kunst; Olin (2002, zuerst 1988) defi t Landschaft architektur als eine Subdisziplin von Kunst.
  • [3] Die innere Verbindung zwischen ästhetischer Bewegung und Naturschutz wird in den Äußerungen von Pazaurek (2007, zuerst 1912: 119), einem Kunstreformer des frühen 20. Jahrhunderts, deutlich: Er stellte fest, die Untersuchungen von Heimatforschern zum Regionaltypischen, könnten für Kunstgewerbetreibende in Abgrenzung industriell hergestellter (also per se kitschiger) Produkte als Quelle reichster Anregung dienen.
  • [4] Dennoch konnten in Deutschland, aber auch in Nordamerika, zu Beginn des 20 Jahrhunderts Natur- und Heimatschützer mit einer ästhetisch begründeten Kritik an Veränderungen der physischen Grundlagen angeeignter physischer Landschaften (hier am Beispiel von Staudammprojekten) distinktiv gegenüber dem populären Geschmack argumentieren: Sie opponierten gegen die horizontale Linie des Wassers (Blackbourn 2007: 287), die allerlei Vergnügungspöbel anlockte, wie es in zeitgenössischen Publikationen des Naturschutzes hieß. Im Zuge des Prozesses der Trivialisierung wurde auch die Romantik für manche Kritiker zum Inbegriff schlechten Geschmacks, da ihre Werke überspannt, unwahrscheinlich, gesucht und willkürlich seien (Illing 2006: 47). Auch die Landschaft alerei Caspar David Friedrichs, die Spanier (2006: 33) als sich gewissermaßen durch überschießendes Pathos auszeichnend charakterisiert, indem spirituelle und religiöse Gefühle in Landschaften (Seelenlandschaften) gekleidet seien, zeichnen sich eher durch eine Sehnsucht nach Sehnsucht (Prause 1999: 82) aus, als durch Möglichkeiten, in dieser Form auch in der physischen Welt aufzutreten.
  • [5] Hinsichtlich des modernen Natur- und Landschaftsschutzes stellt Spanier (2006: 26) eine in Sprache und Gestik zu Pathos, Leiden und Religion (Spanier 2006: 26) neigende Umweltkommunikation fest, die deutliche Parallelen zur Romantik aufweist (vgl. auch Eisel 2009 in Bezug auf Landschaft). Dabei werden in Naturschutz und Nachhaltigkeit so Spanier (2006: 31) auffällig oft die ganz großen Gefühle bemüht. Und zwar sowohl in der Wissenschaft als auch in der Belletristik und Journalistik, sowohl im ehrenamtlichen als auch im professionellen Bereich. Angesichts der Größe der zu lösenden Aufgaben scheinen es wohl nur diese ganz großen Gefühle sein zu können, die in der Kommunikation angemessen sind. Ob das wirklich so sein muss, verdient gut überlegt zu sein, denn ein Zuviel an Pathos und Emotionalität kann auch unangenehm berühren.
  • [6] Aus modernistischer Sicht lässt sich mit Luhmann (1989: 370) argumentieren: Moral ist ein riskantes Unternehmen. Wer moralisiert, lässt sich auf ein Risiko ein und wird sich bei Widerstand leicht in der Lage finden, nach stärkeren Mitteln suchen zu müssen oder an Selbstachtung einzubüßen. Schließlich stellt der moralische Code die höchste Instanz der sozialen Kommunikation dar: Wer ist schon in der Lage, fachlich zu argumentieren, wenn er als moralisches Monster dargestellt wird? Daher wohnt der Anwendung des moralischen Codes die Tendenz inne, Streit zu erzeugen, aus Streit zu entstehen und den Streit dann zu verschärfen (Luhmann 1989: 370). Der (aus moderner Sicht kitschigen) Moralisierung innewohnend sind jedoch durchaus für die gesellschaftliche Funktion unerwünschte Nebenfolgen: Moralisierungen sind schwer wieder zurücknehmbar (vgl. Bogner 2005) und sind nicht auf Achtung des Anderen, sondern auf dessen Missachtung ausgerichtet, schließlich bezieht sich ihre Anwendung auf die Prüfung der Einhaltung sozialer Normen, deren Einhaltung nicht mit dem Gewinn sozialer Anerkennung belohnt, deren Missachtung jedoch mit Anerkennungsentzug bestraft wird. Darüber hinaus bezieht sich die Anwendung des moralischen Codes nicht auf die Rolle, die ein Anderer einnimmt, sondern auf dessen Person. Bei der Anwendung des moralischen Codes geht mit der Diskreditierung von Handlungen oder Ansichten einer Person oder Personengruppe häufig die Diskreditierung der Person einher. So werden die Bestrebungen der Errichtung einer Straße nicht (rollenspezifi ch) fachlich beurteilt (beispielsweise hinsichtlich der Ausgleichbarkeit von Eingriffen), sondern moralisch (jeder, der den Bau der Straße befürwortet oder nicht kategorisch wird als Naturfeind, schlechter Mensch oderBüttel des Kapitals diff miert). Wobei dieser Streit in erster Linie nicht auf der Ebene der fachlichen und sachlichen Ebene, also jener der sozialen Rolle, ausgetragen wird, sondern auf jener der fachlich und sachlich in den seltensten Fällen gerechtfertigten moralischen Urteile, also auf Ebene der Person.
  • [7] Diese Idealisierung kann letztlich in zweifacher Weise in die angeeignete physische Landschaft eingeschrieben werden: Einerseits durch Erhaltung der physischen Grundlagen angeeigneter physischer Landschaft, andererseits durch historisierende Gestaltung von Objekten (wie beispielsweise im New Urbanism). Aufgrund der Differenz zwischen einem modernen gesellschaftlichem Entwicklungsstand und dem (vielfach expertendefinierten) historisierenden Soll-Zustand angeeigneter physischer Landschaft lässt sich dieser historisierende Soll-Zustand aus modernistischer Sicht als unechte Kunst begreifen, also als eine billige Kopie eines geschätzten Originals, eines historischen Zustandes angeeigneter physischer Landschaft.
  • [8] Eine Sichtweise, die in Europa im Zuge der Rezeption des Buches Rabelais Welt Volkskultur als Gegenkultur von Bachtin (1987) in den 1980er Jahren eine erneute Aktualisierung erfuhr (Illing 2006)
  • [9] Doch nicht allein die Kommunikation eines an der (Kultur)Landschaft erhaltung ausgerichteten Naturschutzes erweist sich aus Sicht einer modernistischen Ästhetik als vielfach (zumindest latent) kitschbelastet, vielmehr lässt sich auch der angestrebte Soll-Zustand von physischer Landschaft in mehrfacher Weise gemäß den von Gelfert (2000) benannten Aspekten von Kitsch als kitschig ansprechen: So steht das Naturbild des Paradigmas der sukzessionistischen Entwicklung angeeigneter physischer Landschaft eher in der Tradition des Erhabenheitskitsches, also dem Naturbild eines ewig wiederkäuenden Ungeheuers, wie es in Goethes Werther heißt, während sich auf der Seite des Paradigmas der Erhaltung und Wiederherstellung angeeigneter physischer Landschaft das Bild von Natur als die liebliche, arkadischeparadiesische Natur, die vor allem den Kitsch der kindlichen Unschuld (Gelfert 2000: 42) fi
  • [10] Dabei werden (insbesondere ländlich-idyllische) angeeignete physische Landschaften in den vergangenen Jahren auch vielfach durch Vertreter des Naturschutzes (vgl. Piechocki 2003 und 2004, Piechocki et al. 2003) als Transparente für Heimatidealisierungen herangezogen (Fogelson 1993, zuerst 1967, Weinstein 1998).
  • [11] Die Romantisierung der Vergangenheit, als Ausdruck einer selektiven Referenzierung des Bewusstseins (Trigg 2009: 32) im Vergangenen, stellt sich in der Konstruktion historischer Kulturlandschaften sowohl bei Experten als auch bei Laien ein. In der Konsumtion heimatlich-ökoidyllisch stereotyper Landschaften werden Laien wie Experten zu Genießenden, die sich im Genuss genießen (Gelfert 2000, Johler 2001, Kühne 2008b). Wobei in Nordamerika eine solche retrospektivische romantisierte Ästhetisierung vielfach die indigene Landschaft der vorkolonialen Ära betrifft (Schweninger 2008).
  • [12] Der Akt des Helfens stellt auch eine sozial-hierarchische Kommunikation dar: Einerseits besteht ein Machtgefälle zwischen dem Helfenden, als Akteur, und jenem, der Objekt der Hilfe ist, andererseits eine moralische Asymmetrie zwischen dem Helfenden und jenem, der prinzipiell helfen könnte, dies aber nicht tut. Die moralisch kommunizierten Motive von Demut, Bescheidenheit und Selbstaufopferung (Gelfert 2000: 73) zählen dabei ebenso zu einer kleinbürgerlichen Ideologie wie eine exklusivistische Rhetorik (im Sinne von Sloterdijk 1987).
  • [13] Das Verhältnis von Kultur und Zivilisation beschreibt Sennett (1991: 108) als das einer Spannung zwischen Ganzheit und Unterschied: Das Wort umfasste für sie [die Menschen des Aufklärungszeitalter; Anm. O. K.] die Kräfte der Ganzheit innerhalb der Gesellschaft während Zivilisation die Bereitschaft anzeigte, den Unterschied zu akzeptieren.
  • [14] Die postmoderne Aufhebung des dichotomen Denkens postuliert Liessmann (2002: 17) am Beispiel des Gegensatzes von Kunst und Kitsch: Wer die Opposition von Kitsch und Kunst noch aufrecht erhalten wollte, entlarvte sich damit als zumindest gestrig, wenn nicht vorgestrig.
  • [15] Eine solche inklusivistische Verortung von Naturschutz und Denkmalschutz, aber auch Städtebau und Landschaft lanung, bedeutet eine Aufhebung der Trennung der Paradigmen der Erhaltung und Widerherstellung angeeigneter physischer Landschaft und der sukzessionistischen Entwicklung angeeigneter physischer Landschaft.
  • [16] Eine Haltung, die in der praktischen Landschaftsentwicklung infolge des Abwägungszwangs häufig üblich ist, der aber noch immer häufig der Makel des Abweichens von einem unverfälschten Paradigma zugeschrieben und die letztlich als schlechter Geschmack stigmatisiert wird.
 
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