Wird Lernen ermöglicht? Eine erste Einschätzung
Der Film hat eine Länge von 112 Minuten. Würde man ihn vollständig im Unterricht zeigen, müssten dafür ca. drei Unterrichtsstunden zur Verfügung gestellt werden. Der Film wird an den Zeittakt der Schule angepasst; das bedeutet, dass er nicht insgesamt, sondern dass einzelne Szenen nacheinander im Unterricht gezeigt werden. Die Lehrerin verlagert die Vermittlung von Informationen auf den Film. Sie hat für diese Stunde keine zusätzlichen Materialien vorbereitet, die die Schüler in ihrem Lernprozess unterstützen könnten, z. B. Hinweise zu den handelnden Personen und zu den einzelnen Szenen des Films. Die Lehrerin lässt zunächst einige Filmszenen, die in einer vorangegangenen Stunde gezeigt wurden, durch die Schüler rekonstruieren und stellt Zwischenfragen, um ein Minimum an Informationsverarbeitung der Filmhandlungen durch die Schüler sicher zu stellen. Das Zeigen weiterer Szenen des Films wird durch einen Arbeitsauftrag angeleitet. Die Lehrerin fordert nicht dazu auf, die verschiedenen Erfahrungen der einzelnen Protagonisten in der Hitlerjugend zu unterscheiden und die Veränderung der Freundschaft auf diesem Hintergrund zu deuten. Gleichwohl wird durch ihren Arbeitsauftrag den Schülern eine bestimmte Richtung der Wahrnehmung und Deutung nahe gelegt, die mit der vermuteten, aber nicht offen gelegten Perspektive der Lehrerin übereinstimmt. Der Arbeitsauftrag passt nicht zu den Szenen, die die Schüler in dieser Stunde im Film anschauen. Die Schüler sollen sich Stichworte machen. Ob deren Qualität möglicherweise im Anschluss an den Unterricht durch die Lehrerin bewertet wird, bleibt offen.
Die von den Schülern erwarteten kognitiven Aktivitäten beim Betrachten des Films sind Zuschauen, Erkennen der relevanten Protagonisten und der Handlung, Wiedergeben und erste Einordnung des Geschehens. Eine gewisse Fähigkeit zur Informationsentnahme und Informationsverarbeitung anhand von Filmen wird von der Lehrerin vorausgesetzt. Dabei behält sie es sich vor, das Abspielen der Szenen zu unterbrechen und Fragen zu stellen, um die Ereignisse zu klären; sie benennt Schlüsselszenen und Relevanzen. Erwartet sie, dass der Film aus ihrer Perspektive von den Schülern betrachtet und rekonstruiert wird? Die Lehrerin erinnert die Namen der beteiligten Personen im Film nicht immer richtig. Sie gibt auch kaum sachliche Hintergrundinformationen zu den Swing Kids.
In der Besprechung der Szenen hebt sie auf die Gefühle ab. „Welche Reaktion hat sich bei den drei Jungen gezeigt?“ (Z 355). Die Schüler nennen ihr mögliche Formen des Erlebens (Angst, Trauer, Glück) (Z 357, 349, 362); die Lehrerin hebt auf Angst und Entsetzen ab (Z 358). Auch an anderer Stelle wird nach emotionalen Reaktionen und nach Erleben gefragt (Z 375), wobei auf eine politische Einordnung des Geschehens verzichtet wird. Die Lehrerin stellt Fragen zum Film, auch solche, die nicht auf der Grundlage der bisher gesehenen Szenen beantwortet werden können, sondern entweder aus allgemeinem Weltwissen oder aus der Kenntnis des weiteren Verlaufs des Films resultieren könnten.
Die Stunde endet damit, dass die Schüler individuell Aufzeichnungen anfertigen; es gibt keine gemeinsame Zusammenfassung des Gesehenen oder dessen Reflexion. Ob dies in einer der nächsten Unterrichtsstunden passiert, bleibt offen. Da aber der Film noch nicht zu Ende geschaut wurde, ist zu vermuten, dass die weiteren Stunden mit weiteren Filmbetrachtungen ausgestaltet werden. Blickt man noch einmal auf die Rahmung dieser Unterrichtsstunde durch die Verweise auf eigenständige Lernhandlungen (Erarbeiten von Referaten in Gruppen), wird deutlich, dass die Lehrerin vermutlich erst am Ende der gesamten Unterrichtseinheit feststellen können wird, ob ein eigenständiger Aneignungsprozess erfolgreich war. Die Unterrichtsstunde ist meines Erachtens aus verschiedenen Gründen pro-
blematisch:
t Die Schulstunde wird vor allem dafür genutzt, die Filmszenen zu betrachten.
t Die Lehrkraft klärt nicht explizit, dass es sich um einen Spielfilm handelt, der erdachte Geschichten erzählt. So liegt die Gefahr nahe, dass die Schüler annehmen, dass es ‚so gewesen ist'; die narrative Konstruktion der Ereignisse durch den Spielfilm wird nicht reflektiert. Die Lehrerin bietet keine Möglichkeit an, zwischen dem historischen Geschehen und seiner Darstellung im Spielfilm zu unterscheiden. Sie bietet keine Informationen über das Geschehen an und befähigt die Schüler nicht zur rationalen Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen und ihrer filmischen Verarbeitung.
t Es wird darauf gesetzt, dass durch eine filmische Darstellung Informationen über die Swing Kids im Nationalsozialismus vermittelt werden und durch die Schüler eigenständig Erkenntnisse generiert werden können.
t Die Lehrerin bietet keine Möglichkeit an, den Film sachlich-distanziert zu betrachten. Das Stoppen des Films und das Anfertigen von Notizen könnten hierzu einen Versuch darstellen; jedoch wird der Zusammenhang der Ereignisse zerrissen und deren Rekonstruktion erschwert.
t Nach Kiper und Mischke (2009, S. 104) sind für das „Lernen aus Erfahrungen“ Momente wie das Verknüpfen von (vermittelten) Erfahrungen mit der Auseinandersetzung über Kontextbedingungen, Handlungsmöglichkeiten, Reflektieren des Erlebnisgehalts, der soziale Austausch mit anderen und die Reflexion der Ergebnisse und die Suche nach Generalisierungsmöglichkeiten ebenso wie die bewertende Einordnung in Bezugssysteme konstitutiv. Das gemeinsame Betrachten des Films wird nicht dafür genutzt, ihn zu besprechen und die so vermittelte Erfahrung reflexiv zu bearbeiten. Im Rahmen dieses Unterrichts wird ein Austausch zwischen den Schülern über die jeweiligen Filmszenen vermieden. Jeder Schüler macht eigene Stichworte. Die unterschiedlichen Formen des Erlebens der Schüler, ihre unterschiedlichen Perspektiven auf den Film und auf die Einschätzung und Bewertung des Handelns der Protagonisten werden nicht genutzt, um Prozesse kognitiver Verarbeitung zu initiieren.
t Es gibt im Rahmen des Unterrichts nur die Rekonstruktion von zuvor gezeigten Szenen und das Betrachten weiterer Szenen; ein Diskurs findet nicht statt; eine Metakommunikation über den Film erfolgt nicht.
t Das Betrachten des Films bleibt dem Erkennen der Protagonisten und der partiellen Rekonstruktion des Handlungsverlaufs verhaftet; die potentielle Möglichkeit, durch eine Reflexion der Ereignisse unter einer ethischen Perspektive Bildungsprozesse auszulösen, wird nicht genutzt.
t Der Einsatz des Films, der stark auf das Erleben zielt, steht in Gefahr, die Jugendlichen emotional zu überwältigen; vermutlich müssen sie sich gegen diese emotionalen Zumutungen zur Wehr setzen.
Potentiell könnten auch durch diesen Film Bildungsprozesse initiiert werden. Man könnte die jeweilige Situation der beiden Swing Boys Peter und Thomas dafür nutzen, sich ihre je unterschiedlichen biographischen und sozialen Erfahrungen zu vergegenwärtigen. Man könnte darüber sprechen, was ihnen ihre Freundschaft bedeutet. Man könnte diskutieren, wieviel einem die eigene Musik und der damit verbundene Lebensstil wert ist, warum Swing Musik von den Nationalsozialisten verboten wurde und ob Möglichkeiten und Spielräume dafür vorhanden waren, sich dem Nationalsozialismus und seinem Kulturverständnis zu verweigern. Man könnte darüber sprechen, was es für eine Freundschaft bedeutet, wenn Menschen unterschiedlich politisch denken und ob es möglich ist, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, wenn Erleben und Bewerten von Ereignissen konträr zueinander liegen. Man könnte darüber nachdenken, was es heißt, für einen Freund einzutreten, wieviel und aus welchen Gründen persönliche Gefährdung für einen Freund auf sich genommen werden sollte. Man könnte überlegen, wann Machtund Gewaltverhältnisse, denen man sich gegenüber weiß, so überwältigend und zerstörerisch werden, dass es schwer ist, sich als einzelner zu verweigern. Man könnte fragen, wieviel persönlicher Rückhalt und welche Qualität in Freundschaftsbeziehungen nötig wären, um gemeinsam zu widerstehen. Man könnte Fragen der Identitätsentwicklung, der Zugehörigkeit und Individuation und den jeweiligen Preis unter je unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen zum Thema des Unterrichts machen. Die Lehrerin könnte das Potential des Films nutzen, ethisch-moralische Konflikte zu besprechen und zu einer Auseinandersetzung mit Gründen für das eigene Handeln aufzufordern. Dazu müsste ein Spielraum dafür bleiben, diese Fragen kontrovers und auf unterschiedlichen Stufen moralischer Entwicklung zu beantworten. Der Unterricht müsste Urteilskategorien für die Bewertung der jeweils argumentativ angeführten Begründungen zur Verfügung stellen. Dabei sind Konzepte von Männlichkeit mit von Bedeutung.
Ein Unterricht, der nur darauf setzt, den Film „Swing Kids“ zu zeigen und die Schüler die Zeit des Nationalsozialismus erleben zu lassen, steht in der Gefahr, diese emotional zu überwältigen. Wird eine reflexiv angelegte Besprechung des Films vermieden, kann auch Indoktrination eine Folge sein.