Kein normaler Unterricht?Eine diskursanalytische Annäherung an fünf Schülerinterviews zu einem Geschichtsunterricht

Am Ende sind sich alle einig, eine gute Unterrichtsstunde erlebt zu haben. Die fünf Schüler, die im Anschluss an eine Geschichtsstunde im achten Jahrgang eines österreichischen Bundesrealgymnasiums interviewt werden, äußern sich übereinstimmend positiv zum erlebten Geschehen. Damit ist freilich nicht geklärt, was dieses Geschehen als Unterricht qualifiziert und ebenso wenig, auf was sich die Wertschätzung der Schüler konkret bezieht: War die Unterrichtsstunde gut, weil sich die Schüler dazu herausgefordert sahen, sich viel oder wenig zu engagieren? War sie gut, weil sich die Schüler vom Stoff und/oder dessen didaktischer Aufbereitung angesprochen fühlten? Oder war sie ‚lediglich' gut, weil sie, dem subjektiven Empfinden entsprechend, relativ schnell vorüberging? All diese Möglichkeiten setzen spezifische Bestimmungen von Unterricht voraus. Im Folgenden soll analysiert werden, wie sich das, was in fünf Schülerinterviews zu ein und derselben Schulstunde als Unterricht bezeichnet wird, diskursiv konstituiert. Immerhin ist es möglich, dass sich das Objekt der genannten schülerischen Wertschätzung gar nicht mit dem, was andernorts als „Unterricht“ bezeichnet wird, in Übereinstimmung bringen lässt.

Die Untersuchung von Schülerinterviews besitzt gegenüber einer ‚direkteren' Beschäftigung mit dem Unterrichtsgeschehen (z. B. ausgehend von einer teilnehmenden Beobachtung) den Nachteil, dass das Unterrichtsgeschehen dem analytischen Zugriff nur vermittelt und in perspektivischer Brechung zugänglich wird. Genau darin liegt jedoch ein besonderes Potential, wenn vorausgesetzt wird, dass das, was Unterricht bedeutet, aus unterschiedlicher Perspektive (z. B. Lehrer, Schüler, Schulforscher) unterschiedlich verhandelbar wird. Im Folgenden sollen die Spielräume einer solchen Verhandlung im Fokus auf eine einzelne Perspektive – hier diejenige der Schüler – kenntlich gemacht werden. In Abgrenzung zur Einstellungsforschung soll dabei nicht gefragt werden „Wie finden Schüler Unterricht?“, sondern im Zentrum steht die Frage „Wie und als was wird Unterricht im Reden der Schüler diskursiv hervorgebracht?“ Es wird damit gerechnet, dass differente Sichtweisen auf und differente Beschreibungen von Unterricht möglich sind [1]. Anstatt eine synthetisierte Theorie des Unterrichts anzubieten, konzentriert sich der vorliegende Artikel damit darauf – ausgehend von der Textoberfläche des empirischen Materials – Spielräume in der Bestimmung von Unterricht auszuloten. Damit wird gleichzeitig nach den Potentialen einer Dezentrierung des pädagogischen Blickes (vgl. Hünersdorf et al. 2008, S. 13) auf Unterricht gefragt. Diese Dezentrierung setzt im vorliegenden Zusammenhang schon auf der Ebene einer Beschäftigung mit Schülerperspektiven ein, die – wie Bastian, Combe und Reh feststellen, als „vernachlässigte Dimension der Schulund Unterrichtsentwicklung“ (Bastian et al. 2002, S. 429) in Frage kommend – die „Lehrerzentriertheit der Forschung“ (ebd.) konterkariert.

Die Frage „Was ist Unterricht?“ besitzt im vorliegenden Kontext eine heuristische Funktion: Zum ersten erscheint es in vielen Schülerinterviews in der Retrospektive keinesfalls klar, ob es sich bei der erlebten Schulstunde tatsächlich um Unterricht gehandelt hat. Der normative Bezugshorizont, den die Unterscheidung zwischen dem, was Unterricht ist, und dem, was er nicht ist, installiert, erscheint in den Einzelinterviews unscharf. Zum zweiten reproduziert sich die Unklarheit in der Bestimmung von Unterricht in der Zusammenschau der unterschiedlichen Schülerinterviews. In der kontrastiven Gegenüberstellung ausgewählter Interviewpassagen soll gezeigt werden, entlang welcher Differenzlinien die vorfindlichen Bestimmungsversuche von Unterricht schwanken und an welchen Stellen Spielräume für Verhandlungen entstehen [2].

Ein erster Abschnitt beschäftigt sich mit den Eigenschaften des zu analysierenden Materials sowie der methodologischen Rahmung der Analyse. Ein zweiter Abschnitt stellt ausschnitthaft und unter den genannten Prämissen eine analytische Annäherung an den Schülerdiskurs zur genannten Unterrichtsstunde vor. Ein Fazit formuliert Ausblicke.

  • [1] Trotz oder gerade auf Grund der Feststellung, dass „Unterricht bis hin zur Unkenntlichkeit bekannt ist“ (Geier 2011, S. 113) wird der Befund kommuniziert, dass „sich aus der langen und kontinuierlichen Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Unterricht' keine konsensfähige Auffassung und demnach auch weder ein einheitlicher Sprachgebrauch noch eine konsistente Gegenstandsbestimmung ergeben“ (Scholl 2011, S. 37) hat
  • [2] Programmatisch weist eine solche Fragerichtung Nähen zu dem Projekt auf, die „Konstitution pädagogischer Wirklichkeiten im Spannungsfeld von bedeutungsverleihender Begriffsbestimmung und imaginärem Entwurf empirisch zu untersuchen“ (Schäfer 2006, S. 103)
 
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