Tatbestand
Rechtsgutverletzung
Erläutert werden soll dieser Punkt am Beispiel des § 823 Abs. 1. Der Wortlaut dieser Vorschrift beschränkt sich zunächst auf die Aufzählung bestimmter absoluter Rechtsgüter, die verletzt sein müssen. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um einen abschließenden Katalog, sondern um Regelbeispiele häufig verletzter Rechtsgüter (z. B. Körper, Freiheit). Nicht zu den absolut geschützten Rechtsgütern gehört das Vermögen. Wer in seinem Vermögen verletzt wurde (z. B. durch Betrug), kann sich aber auf § 823 Abs. 2 i. V. m. § 263 StGB – strafrechtlicher Betrug – berufen.
Darüber hinaus kommt bei § 823 Abs. 1 auch eine Haftung für die Verletzung eines „sonstigen Rechts“ in Betracht. Das ist wegen des oben beschriebenen Enumerationsprinzips problematisch. In Rechtsprechung und Literatur ist deshalb seit langem die Einschränkung anerkannt, dass damit nur „sonstige absolute Rechte“ gemeint sind. Der Gesetzgeber wollte hier den Katalog ein Stück weit offen lassen, um neue rechtliche und tatsächliche Entwicklungen berücksichtigen zu können. Ein Beispiel eines „sonstigen Rechtes“ ist das sog. allgemeine Persönlichkeitsrecht. Es handelt sich um ein von der Rechtsprechung aus Art. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) und Art. 2 GG (Handlungsfreiheit) entwickeltes umfassendes Recht auf Achtung und Entfaltung der Persönlichkeit. Die geschützten Sphären sind vielfältig und breit gestreut. Bei natürlichen Personen unterliegt die Individual-, Privat- und Intimsphäre in weit reichendem Umfang dem Persönlichkeitsrecht. Ein Beispiel sind Beleidigungen. Die Intimsphäre gewährt einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung.
Ein weiteres, in der Praxis bedeutsames „sonstiges Recht“ ist das – ebenfalls von der Rechtsprechung entwickelte „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“. Tatbestandsmäßig sind hiernach unmittelbare betriebsbezogene Eingriffe. Beispiele sind rechtswidrige Streiks, aber auch schon die einmalige Zusendung einer Werbe-E-Mail an einen Unternehmer (AG Hamburg, Urteil v. 20.6.2005 – 5 C 11/05). Auch das „Recht am eigenen Bild“ oder das Namensrecht aus § 12 zählen zu den sonstigen (absoluten) Rechten.
Rechtsgutverletzungen können durch Tun oder Unterlassen begangen werden. Ein entsprechendes Tun erfüllt grundsätzlich den Tatbestand der unerlaubten Handlung. Problematisch sind nur die Fälle, in denen ein solches nicht vorliegt. Dann fehlt es an einer Handlung sowohl im zivilals auch im strafrechtlichen Sinne. Wer beispielsweise von einem anderen in eine Schaufensterscheibe geworfen wird, die zu Bruch geht, hat zwar die Scheibe beschädigt und damit im Grunde das Eigentum eines anderen verletzt. Mangels Handlungswillen hat er aber nicht gehandelt. Vielmehr wurde er sozusagen nur von einem anderen als Waffe oder Werkzeug benutzt. Er erfüllt damit letztlich nicht den Tatbestand einer Eigentumsverletzung nach § 823 Abs. 1. Der Tatbestand einer unerlaubten Handlung kann aber auch durch Unterlassen erfüllt werden. Im Gesetz selbst kommt dies nicht zum Ausdruck. Die entsprechenden Grundsätze wurden von Rechtsprechung und Literatur herausgebildet. Danach muss es auch beim Unterlassen Einschränkungen geben. Konkret führt ein Unterlassen nur dann zu einer Tatbestandsverwirklichung, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln bestanden hat und wenn gerade die pflichtwidrige Unterlassung zur Verletzung eines absolut geschützten Rechtsguts führt. Eine allgemeine Pflicht, andere vor Schäden zu bewahren, gibt es nicht. Rechtliche Handlungspflichten die eher die Ausnahme als die Regel. Sie können sich aus Vertrag oder Gesetz ergeben. Ein Bergführer darf aus rechtlicher Sicht nicht tatenlos zusehen, wie „seine“ Bergsteiger, die ihn unter Vertrag genommen haben, sich in eine Gefahr begeben. Unterlässt er bestimmte notwendige Überwachungs- und Handlungspflichten, kann dieses Unterlassen tatbestandsmäßig sein. Ansprüche aus einer damit verbundenen Vertragsverletzung könnten parallel geltend gemacht werden.
4.3/Fall 1: In den kommunalrechtlichen Vorschriften der Gemeinde G ist die winterliche Räum- und Streupflicht der Anlieger geregelt. Anlieger und Vermieter V einer Wohnung im Gemeindegebiet hat diese Pflicht im Mietvertrag auf den Mieter M delegiert. Eines Tages im Winter gefriert der Boden und bildet eine glatte Eisfläche. Da es Wochenende ist, schläft M aus und räumt bzw. streut nicht. Ein Passant (P) rutscht beim Gehen auf dem eisglatten Bürgersteig vor dem Haus aus und bricht sich das Bein. Kann P Schadensersatz von V und/oder M und/oder G verlangen?
Weiter kann sich aus vorangegangenem Gefahr schaffendem Tun eine Rechtspflicht zum Handeln ergeben. Wer beispielsweise zuhause Schusswaffen aufbewahrt, hat die Pflicht, diese vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Unterlässt er dies, kann eine Erfüllung des Tatbestandes durch Unterlassen vorliegen. Auf diesen Grundsätzen beruht auch die sog. allgemeine Verkehrssicherungspflicht.
Beispiele: Verkehrssicherungspflichten
• Pflicht eines deutschen Reiseveranstalters zur Überprüfung sicherheitsrelevanter Teile der Einrichtungen (hier: Wasserrutsche/Absaugrohr) der mit ihm kooperierenden Urlaubshotels (hier: in Griechenland, OLG Köln, Urteil v. 12.9.2005 – 16 U 25/05)
• Pflicht des Betreibers eines Erlebnisparks zur Ausstattung der Teilnehmer
einer Quad-Tour mit Schutzhelmen (BGH, Urteil v. 9.9.2008 – VI ZR
279/06)
• Pflicht des Fußballvereins zu Sicherungsmaßnahmen im Stadion sowie auf
Zu- und Abgangswegen (Sportler, Schiedsrichter, Besucher, Dritte)
Der Grundgedanke bei den Verkehrssicherungspflichten lautet: Wer eine Gefahrenquelle schafft, hat die Pflicht, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Schäden von denen abzuwenden, die mit der Gefahrenquelle in Berührung kommen. Die Maßnahmen sind umso einschneidender, je größer die Gefahr ist. Die oben im Fall angesprochene Räum- und Streupflicht ist in diesem Sinne eine spezielle Verkehrssicherungspflicht.
4.3/Fall 2: Auf dem allgemein zugänglichen und nicht eingezäunten innerörtlichen Wiesengrundstück des E türmt sich seit langem diverser, von Unbekannten abgelagerter Müll, unter anderem eine scharfkantige, alte Autotür. Kind K verletzt sich beim Spielen an der Tür. Erfüllt E den Tatbestand der Körperverletzung?