Kritik der Ansätze und ihrer Erträge
Alle Beiträge tatsächlich an der Frage zu messen, was sie für eine theoretische Bestimmung des Unterrichts leisten, erscheint uns in der Sache problematisch, da sich diese Bestimmung – dies sollte durch die vergleichende Lektüre der Ansätze bis jetzt deutlich geworden sein – gar nicht als Anspruch aller AutorInnen erkennen lässt. Dies gilt unseres Erachtens am deutlichsten für die Analyse Tyagunovas/ Breidensteins und jene Krügers. Wenn wir die ethnomethodologische Perspektive der ersteren auf die jeweilige Hervorbringung von Unterricht einzunehmen versuchen, erscheint uns die Anstrengung einer theoretischen Bestimmung des Unterrichts nicht nur schwerlich aussichtsreich, sie erscheint uns dann vor allem unnötig. Denn je stärker man etwa die Situativität der Hervorbringung der unterrichtlichen Interaktion betont, desto mehr wendet man sich von einer allgemeinen Bestimmung des Unterrichts ab. Ist die Theorie des Unterrichts als Theorie der Akteure an die lokale Praxis gebunden, kann diese lokale Ebene aus unserer Sicht nicht transzendiert werden. Denn die jeweiligen Listen mit den für diese bzw. jene lokale Praxis konstitutiven Elementen zusammenzufügen, um den Unterricht in seiner Allgemeinheit bestimmen zu können, stünde dieser methodologischen Prämisse entgegen. Im Verständnis Tyagunovas/ Breidensteins gibt es kein von der jeweils besonderen Praxis unterschiedenes Allgemeines. Auf die Bestimmung eines solchen zielt jedoch unsere Frage nach dem Unterricht. Hält man an dieser fest, ist zu konstatieren, dass ihr Ansatz das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zur Seite des Besonderen hin auflöst. Das Ergebnis, das daraus resultiert, hält die Theorie der Praxis fest, beansprucht aber nicht, eine Theorie über diese Praxis zu sein. Und unter der Annahme, dass die an der Praxis Beteiligten sich darüber verständigen können, dass „Unterricht“ stattfindet, und sie dabei Mittel finden, die anfallenden „praktische[n] Probleme“ (S. 77) zu lösen, bedarf die Praxis auch gar keiner Theorie über sich selbst, da sie immer schon über ihre eigene Theorie verfügt. Dennoch müsste die ethnomethodologische Betrachtung dasjenige bestimmen, was die jeweilige Praxis als Unterricht konstituiert. Doch unseres Erachtens erscheint es nicht zwingend, dass die von Tyagunova/ Breidenstein versammelten Phänomene in ihrer Summe auf die Praxis „Unterricht“ schließen lassen. Das Schaffen eines Rahmens, das Formieren einer Gruppe, das Aktivieren der lokalen Geschichte, das Instruieren und Kategorisieren sowie das Umgehen mit der clock time (vgl. S. 79ff.) sind Praktiken, die in vielfältigen sozialen Situationen anzutreffen sind, die nicht unbedingt Unterricht sind, ja ggf. gar keinen pädagogischen Charakter aufweisen müssen. Wenn aber aus Sicht von Tyagunova und Breidenstein die Konstitution von Unterricht über die Summe solcher Praktiken erfolgt, die sich allesamt auch außerunterrichtlich finden lassen, müsste daraus aus unserer Sicht der Schluss gezogen werden, den Unterschied zwischen unterrichtlicher und nicht-unterrichtlicher Praxis einzuebnen; damit würde verneint, dass sich Unterricht durch eine (pädagogische) Spezifik ausweise. Diese Konsequenz widerspräche aber dem Befund der AutorInnen, dass die Beteiligten ihre Praxis als „Unterricht“ auffassen
und damit über ein Kriterium verfügen, ihn von Nicht-Unterricht abzugrenzen. Auch die Diskursanalyse unterstellt sich nicht dem Ziel einer eigenen Bestim-
mung des Gegenstandes „Unterricht“, sofern jedenfalls für eine solche erforderlich erscheint, einen theoretischen Standpunkt beziehen zu können, der eine Distanz zum Gegenstand aufweist. Denn die Diskursanalyse geht davon aus, dass „Unterricht“ als Gegenstand nur in Diskursen erscheint und er, wie alle Gegenstände, nur innerhalb dieser verhandelt und bestimmt werden kann. Entsprechend wendet sie sich gegen die Vorstellung einer realistischen Ontologie. Aus dieser Perspektive ist es daher Krüger nur möglich, zu beschreiben, wie Unterricht im Diskurs konstruiert wird. Hält man die ontologische Prämisse, es gebe nur Diskurse, oder die erkenntnistheoretische, nur diese seien uns zugänglich, für nicht triftig, ist nicht einzusehen, warum man erziehungswissenschaftlich so zurückhaltend argumentieren sollte. Mit einem Verständnis, das der wissenschaftlichen Theoriebildung die Aufgabe der Bestimmung des Begriffs zuspricht, ist die diskursanalytische Position unverträglich [1].
Zwar problematisiert Kiper nicht explizit einen gegenstandstheoretischen Anspruch, jedoch wendet sie sich methodologisch gegen das Vorhaben, diese auf dem Weg der empirischen Unterrichtsforschung einzulösen. Wie beschrieben, geht ihre Antwort auf die Frage, was Unterricht ist, in ihre Betrachtung ein. Indem sie Unterricht rein begrifflich bestimmt, distanziert sie sich implizit von dem Versuch, der alle anderen Analysen verbindet, nämlich im Durchgang durch das Material [2] zu einer Bestimmung schulischer Wirklichkeit zu gelangen. Subtrahierte man die präskriptiven Anteile des Unterrichtsbegriffs Kipers, ergäben sich vielleicht Gemeinsamkeiten mit den Modellierungen der anderen AutorInnen, doch trüge dies nichts zu unserem Vorhaben bei, diejenigen Bestimmungen von Unterricht zu vergleichen, zu denen Ansätze qualitativ empirischer Unterrichtsforschung gelangen.
Die Beiträge von Reh/ Wilde, Hollstein/ Meseth/ Proske und Gruschka sind nicht nur material fundiert, sondern mit ihnen wird auch der Anspruch erhoben, im Durchgang durch die Empirie zu einer Theorie des Unterrichts zu gelangen resp. diese auszuformulieren. Daher erscheint es uns in diesen Fällen nicht illegitim, sie daraufhin zu befragen, welchen Ertrag die jeweiligen Antworten auf die Frage
„Was ist Unterricht?“ erbringen. Tut man dies, ist dieser unseres Erachtens dann als gering zu bewerten, wenn diese Antworten ähnlich unspezifisch ausfallen wie die auf der Basis der Interpretation Tyagunovas/ Breidensteins (s. o.).
So müssten Reh/ Wilde beanspruchen, die Art der gleichzeitigen Konstitution von Sache und Subjekten als spezifisch unterrichtliche auszuweisen. Denn unter der Annahme, es gebe keine Interaktion ohne Inhalt, ereignet sich in jeder sozialen Situation diese Gleichzeitigkeit der Konstitution der Sache und der Subjekte. Doch dass die „besondere Weise“ (S. 119), in der sich diese beiderseitige Konstitution im Unterricht (oder im GSK-Unterricht) vollzieht, durch die vorgelegte Analyse schon hinreichend bestimmt wäre, erscheint uns fraglich. Etwa müsste klarer dargelegt werden, dass das „Zeigen“ der Sache, wie es sich in dieser GSK-Stunde vollzieht, nicht nur ein „auf das Lernen gerichtetes“ (S. 108) und damit nach Klaus Prange (2005) ein pädagogisches ist, sondern einen unterrichtlichen Modus des Umgangs mit Inhalten darstellt. So wäre unseres Erachtens bspw. zu klären, wie sich Zeigen im Unterricht von einem außerunterrichtlichen, gleichwohl aber pädagogischen Zeigen unterscheidet, etwa von einer Geste, mit der ein Elternteil die Aufmerksamkeit des Kindes zu lenken versucht: „Guck mal, da ist ein Bagger!“ Auch dass die Adressierung von Subjekten als mittelbare Zeugen (vgl. S. 116f.) per se pädagogisch sei, erscheint uns unplausibel. Dagegen erachten wir als das den Unterricht bestimmende Pädagogische viel eher, dass diese Adressierung, wie Reh/ Wilde darlegen, mit dem Ziel des Verstehens erfolgt (vgl. S. 118), welches sich durch das Durcharbeiten des Bezeugten einstellen soll. Mit anderen Worten, dass die Sache als eine verstehbare und zu verstehende gezeigt wird, und die Heranwachsenden zugleich als Subjekte adressiert werden, die verstehen können und sollen. Schließlich: Auch im Hinblick auf die Formen der Subjektivierung, die die so oder so adressierten Schüler vollziehen, wäre zu fragen, inwiefern diese Weisen der Subjektbildung als pädagogische bzw. unterrichtliche zu verstehen sind.
Um zu begründen, warum eine präzise Fixierung des Unterrichts nicht möglich erscheine, führen Hollstein/ Meseth/ Proske das Argument an, „die Ordnungsbildung des Unterrichts“ nehme „viele unterschiedliche Formen des Pädagogischen in Anspruch“ (S. 73). Weil ihre Antwort auf die leitende Frage daher bewusst unbestimmt ausfällt, erscheint fraglich, ob sie mit ihr die Spezifik des Unterrichts hinreichend genau fassen. Denn auch, wenn man unterstellt, es sei geklärt, dass „‚Stützung', ‚Führung', ‚Disziplinieren', ‚Üben', ‚Hilfe', ‚Fordern', ‚Zeigen', ‚Darstellen', ‚Auffordern', ‚Bewerten' und ‚Prüfen'“ (ebd.) „Formen pädagogischer Kommunikation“ (ebd.; Herv. d. V.) sind, bleibt noch zu präzisieren, welche „spezifischen Konstellationen“ (ebd.) bzw. welche Komposita (vgl. ebd.) dieser Formen als Unterricht zu qualifizieren sind.
Bei einer solchen näheren inhaltlichen Bestimmung der Art und Weise der Ausformung pädagogischer Kommunikation im Unterricht gerät die systemtheoretische Perspektive ggf. an ihre Grenze. Wir denken aber, dass der ethnomethodologische Blick noch besser auf die Logik dieser Konstellationen scharf stellen könnte, als dies in der vorgelegten Analyse der Fall ist; besonders aussichtsreich erschiene uns ein Vergleich mit anderen Stunden unter der Fragestellung, wie in diesen Inkonsistenz markiert und bearbeitet wird. Denn schon in der untersuchten Stunde stellen die Autoren verschiedene Arten von Inkonsistenz heraus, die in deren unterrichtlicher Kommunikation thematisch werden: Das Kämpfen der Heranwachsenden wird als ein Verhalten markiert, das sich für Schüler nicht schickt (vgl. S. 52); eine Antwort Belas wird als falsch bewertet und somit als unverträglich mit dem Wissen, das die Schüler aus Sicht der Lehrerin über den Gegenstand haben sollten (vgl. S. 60); schließlich wird die Unklarheit, die Veit verspürt, ob nämlich noch auf die Erfüllung des Systemzwecks von Unterricht gehofft werden könne, als Ausdruck einer (drohenden) Inkonsistenz gedeutet (vgl. S. 68). Zur erstund letztgenannten Situation verstehen wir die Analyse so, dass, indem die jeweilige Inkonsistenz markiert wird, sich die Kommunikation auf eine Metaebene begibt: Zum Inhalt wird die Grenze des Unterrichts, und zwar unter der Perspektive, ob diese Bestand habe oder nicht. Dagegen verweist die Inkonsistenz der falschen Antwort unseres Erachtens nicht auf diese Grenze und die Frage ihrer Beständigkeit: Unterricht verliert nicht durch eine falsche Antwort seine Form. Systemtheoretisch betrachtet lassen sich falsche Antworten im Gegenteil als Ressourcen seiner Reproduktion verstehen. Nur wenn ein Schüler unbelehrbar, d. h. dauerhaft begriffsstutzig wäre, erschiene diese bedroht; es käme dann zu einer Inkonsistenz der dritten beschriebenen Art: Die Erwartung, Unterricht sei tatsächlich „auf die Ermöglichung und Bestimmung von Lernen gerichtet“ (S. 47), würde brüchig – und könnte ggf. nur dadurch aufrecht erhalten werden, dass der betreffende Schüler dieses Unterrichts verwiesen würde, d. h. an die Umwelt des Systems delegiert würde, in der sich dann andere Systeme, etwa andere Schulformen, seiner annehmen. Kurz: Wir erachten es für die Aufgabe, die spezifische „pädagogische Kommunikation“ des Unterrichts heraus zu präparieren, für überlegenswert, ob dazu nicht die qualitativen Unterschiede in der Art der auftretenden Inkonsistenzen und ihrer Bearbeitung Auskunft geben könnten. Wie Hollstein/ Meseth/ Proske verweist auch Gruschka als Antwort auf die Frage, was Unterricht ist, auf eine Konstellation (vgl. S. 24). In seiner Analyse modelliert er dann das Unterrichten der Lehrperson als eine solche; konkret als eine Verschränkung der drei Dimensionen Erziehung, Didaktik und Bildung. Mit dieser Bestimmung legt er ein Kriterium vor, dem der Anspruch inhärent ist, mit seiner Hilfe lasse sich Unterrichten von anderen pädagogischen Handlungsformen unterscheiden. Wenn der Autor das „Unterrichten der Lehrerin mit dem Film“ (vgl.
S. 29f.) von einer möglichen „Verführung“ (S. 30) durch den Film abgrenzt, durch welche die Heranwachsenden drohten, von dessen Botschaft überwältigt zu werden (vgl. S. 29), unterscheidet er damit unseres Erachtens zwischen Unterrichten und einer bestimmten Spielart des Erziehens, zeigt also die „Trennschärfe“ auf, die der von ihm vorgenommenen Modellierung liegt.
Die Rekonstruktion Gruschkas führt darüber hinaus zu einer weiteren Spezifikation, indem das Agieren der Lehrerin als eine bestimmte Art und Weise des Unterrichtens herausgearbeitet wird. Es handle sich um eine „schlechte pädagogische Kompromissbildung einer Didaktik [...], die mit erzieherischen Mitteln Kooperationsverhalten als Dienst betreibt, die Schüler damit aber von einer bildenden Auseinandersetzung mit dem Sinn des Inhalts abhält“ (S. 40). Insofern findet sich nicht nur angegeben, welche Aspekte sich zu einer Konstellation verschränken, sondern es wird auch die vorfindliche Form der Verschränkung expliziert. Hier kann sich die Analyse Gruschkas allerdings auf die im Projekt „PAERDU“ durchgeführten Rekonstruktionen des Unterrichtens stützen (vgl. Gruschka 2013), aus denen eine Typenbildung resultierte; die Identifikation der Spezifik des Unterrichtens der GSK-Lehrerin wäre auf der Basis allein der Interpretation des fraglichen Unterrichtstranskripts in dieser Weise wohl nicht möglich gewesen [3].
Löst die Antwort, die Gruschka mit seinem Beitrag anbietet, den Anspruch ein, sowohl spezifisch, als auch – nicht nur im Vergleich zu den Antworten der anderen Beiträge – bestimmt zu sein, so bleibt allerdings zu beachten, dass sich diese zur Frage „Was ist Unterricht?“ verschiebt: Denn Gruschka macht die „Pädagogik der Stunde“ (S. 30) am Unterrichten der Lehrperson fest. Seinem Text entnehmen wir kein Argument, dass dieses mit Unterricht zusammenfiele; und doch muss man ihn so verstehen, dass das Agieren der Lehrperson die pädagogische Logik der Stunde bestimme und die Charakteristik des Unterrichts insofern aus ihr folge. Dies erscheint jedoch begründungsbedürftig, bedenkt man die Interaktivität des Unterrichts. Dass sich dieser im Zusammenspiel von Lehrperson und Klasse ergibt, drückt sich zum Teil in den Praktiken aus, die Tyagunova/ Breidenstein als konstitutiv für die fragliche GSK-Stunde bezeichnen (s. z. B. „Notizen“ (S. 86ff.)). Auch Reh/ Wilde unterscheiden zwischen der, mit der spezifischen Konstitution der Sache verbundenen Art der Adressierung der Schüler als diese oder jene Subjekte und der Weise der von ihnen vollzogenen Subjektivierung [4]; letztere folge nicht zwingend aus der Adressierung seitens der Lehrperson, sondern beruhe auch auf dem Agieren der Heranwachsenden. Wir verstehen dies so, dass die Konstitution der Sache wie die Adressierung der Subjekte durch die Lehrperson im Unterricht dann nicht wirkmächtig werden, wenn die Adressierten sich nicht als diese Subjekte ansprechen lassen und die so gezeigte Sache nicht als die ihre anerkennen.
Ein solcher Fall ist nicht nur als möglicher zu erwägen, sondern findet sich auch leicht im untersuchten Unterricht, etwa wenn die Lehrerin die Schüler anhält: „schaut bitte auf zwei Schwerpunkte, die ich euch (jetzt) angebe.“ (Z. 138f.) Mit diesem Auftrag, so könnte man sagen, adressiert sie die Schüler als solche, die der didaktischen Fokussierung auf den Gegenstand bedürfen, und sie konstituiert den Gegenstand Swing Kids als einen, der einer auf zwei Aspekte fokussierenden Betrachtung bedarf. Wenn Bela in dieser Situation dann darum bittet, sich „weiter vor setzen“ zu können, da er seine „Brille vergessen“ habe und sonst „überhaupt nichts“ sehe (Z. 143f.), weist er die Adressierung aktuell insofern zurück, als er sich momentan nicht für die, die Sache erschließende Schwerpunktsetzung interessiert; statt sich das, was die Lehrerin nun angibt, zu notieren, ist er damit beschäftigt, eine Sitzposition einzunehmen, die ihm überhaupt das Verfolgen des Films erlaubt – (vorerst) unabhängig von jeder inhaltlichen Justierung seitens der Lehrperson. Offen bleibt an dieser Stelle, ob Bela, nachdem für ihn die Bedingung des Filmsehens erfüllt ist, der Instruktion folgt, die von der Lehrerin nach der Unterbrechung, die er mit seiner Frage provozierte, noch erteilt wird (Z. 165ff.), ob er also die spezifische Adressierung subjektivierend ratifiziert.
Vor diesem Hintergrund schätzen wir die Antwort Gruschkas so lange lediglich als eine Teilantwort auf die Frage nach dem Unterricht ein, welche der Komplettierung bedarf, bis nicht erwiesen wurde, dass sie mit der Gesamtantwort zusammenfällt [5]. Bei dem Versuch einer Komplettierung wäre jedoch im Sinne der zu klärenden Frage weniger, als dies im Text von Reh/ Wilde der Fall ist, die „Wirkmächtigkeit“ des Tuns der Lehrperson in den Blick zu nehmen [6] als die Frage, als welche Subjekte sich die Heranwachsenden verhalten. Es wäre nicht nur zu beachten, ob sich die Subjektivierungen entsprechend der erfolgten Adressierungen vollziehen, sondern vor allem wären Kriterien zu entwickeln, mit denen sich eine Subjektivierung als Schüler bzw. Schülerin von einer solchen unterscheiden lässt, durch die die Heranwachsenden sich außerhalb des Unterrichts stellen, es also verweigern, sich als SchülerInnen in diesen einzubringen. Auch wenn die Herangehensweise von Reh/ Wilde das „Besteck“ bietet, wesentliche Elemente unterrichtlicher Vermittlung auseinanderzuhalten, so erscheint es aus unserer Sicht fraglich, ob diese Autorinnen für eine solche Bemühung zu gewinnen wären, Kriterien einer innerunterrichtlichen im Unterschied zu einer außerunterrichtlichen Subjektivierung zu formulieren. Denn wir verstehen es so, dass sie die Unterscheidung zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht als evident und nicht hintergehbar setzen und in der Folge mittels ihrer Analyse auch nicht weiter befragen.
Auch Francesco Cuomo, der die auf der Tagung vorgestellten Analysen Gruschkas, Hollsteins/ Meseths/ Proskes und Tyagunovas/ Breidensteins aus einer internationalen, fachdidaktischen Perspektive aus kommentiert, spricht der Betrachtung der Lernprozesse der SchülerInnen eine große Bedeutung zu. Das Vorhaben, eine Theorie des Unterrichts material-empirisch zu fundieren, müsse diese berücksichtigen, sowie die erkenntnistheoretischen Implikationen des Gegenstandes, auf den diese sich richteten:
„[...] this research programme necessarily implies taking into account issues related to the nature of knowledge and how people learn. In other terms, […] one cannot (scientifically) talk about teaching without talking at the same time about learning and epistemology.“ (S. 208)
Der Aspekt der unterrichtlichen Lernprozesse erscheint uns in der von Cuomo geforderten Weise in keiner der vorgelegten Interpretationen hinreichend gehoben. Tyagunova/ Breidenstein, Krüger sowie Hollstein/ Meseth/ Proske werden diesen Anspruch, entsprechend ihrer Herangehensweisen, zudem abweisen, entweder mit dem Argument, für die betrachtete Praxis resp. den untersuchten Diskurs sei dieser Aspekt nicht konstitutiv, oder aber mit jenem, die Lernund Bildungsprozesse lägen außerhalb des Interaktionssystems, als das Unterricht aufzufassen sei. Auch aus der Sicht von Reh/ Wilde wäre diese Forderung sicherlich nicht derart aufzugreifen, dass – vor der Analyse der Praktiken – etwa psychologische Gesetzmäßigkeiten und epistemologische Voraussetzungen der unterrichtlichen Gegenstände sondiert würden; jedoch verstehen wir es so, dass die Praktiken der Subjektivierung darüber Auskunft geben, nach welchen Regeln sich unterrichtliches Lernen vollzieht, und dass das spezifische Zeigen der Sache immer auch in dem Sinne deren Epistemologie enthält, als es Annahmen über ihre Erkennbarkeit, Zugänglichkeit etc. impliziert. Weil Gruschka in seiner Herangehensweise von einem Bezug zwischen dem unterrichtlichen Gegenstand und der Sache in der Welt ausgeht, erfasst seine Analyse nicht nur diese „didaktische Epistemologie“ der Lehrerin, sondern setzt auch eine Befassung mit der vor-unterrichtlichen Sache unter dem Aspekt ihrer Erkennbarkeit voraus (vgl. dazu S. 25ff.; Gruschka 2009). Ebenso aus Sicht des Ansatzes von Kiper erscheint uns die Forderung Cuomos gerechtfertigt; wir gehen davon aus, dass ihr didaktisches Modell beanspruchen muss, Lerngesetzmäßigkeiten und die in den Sachen liegenden Ansprüche zu berücksichtigen.
Im Zusammenhang mit der diskutierten Verschiebung von Unterricht zu Unterrichten fällt unseres Erachtens ins Auge, dass sich die Bestimmung des Unterrichts, die Hollstein/ Meseth/ Proske vornehmen, und jene des Unterrichtens von Gruschka in gewisser Weise ergänzen. Dies deshalb, weil beide Modellierungen sich auf unterschiedliche Ebenen beziehen: Die drei Autoren beobachten die Art der Aufrechterhaltung der Kommunikationsform „Unterricht“, Gruschka dagegen bestimmt, wie die Lehrperson die Aufgabe löst, ihr Fach zu unterrichten. Erstere nehmen Unterricht als System in den Blick, letzterer die Art des „Bespielens des Systems“ durch die Lehrperson. Während sich Hollstein/ Meseth/ Proske mittels des systemtheoretischen Ansatzes von handlungstheoretischen Überlegungen distanzieren, zielt Gruschka darauf, aufzuzeigen, dass unterschiedliche Weisen des Unterrichtens dem Systemzweck, „Lernen und Bildung wahrscheinlich zu machen“ (S. 43), unterschiedlich nahekommen. Da erstere differenztheoretisch strikt zwischen einer sozialtheoretisch fundierten, rein deskriptiven Erziehungswissenschaft und einer notwendig normativen Pädagogik unterscheiden, erkennen sie eine solche Kritik der Praxis an den Ansprüchen, die sie erhebt, nicht als wissenschaftliche an. Hintergrund dieser Zurückweisung ist die Sorge, die wissenschaftliche Reflexion liefere lediglich eine weitere „Selbstbeschreibung“ (Proske 2011, S. 12) der schulischen Praxis, verdopple also ungeprüft deren Selbstverständnis.
Eine solche Nähe zur pädagogischen Praxis weist Kipers Analyse des Unterrichts auf, mit der sie beansprucht, „[d]ie realen Handlungsmöglichkeiten der Akteure und deren Begründungen und Bewertungen [...] zu erörtern“ (S. 136f.). Und indem sie die fragliche Stunde an ihrem Modell gelingenden Unterrichts misst und mit Hilfe dieses Modells einen besseren Unterricht skizziert, unterstellt sie sich den normativen Prämissen der Praxis. Diese Nähe erscheint aus unserer Sicht nur deshalb möglich, weil Kipers Analyse sich auf eine nicht empirisch gewonnene und nicht allein deskriptiv zu verstehende Theorie des Unterrichts stützt: Dem Vorhaben, durch die empirische Rekonstruktion der unterrichtlichen Wirklichkeit zu einer Theorie des Unterrichts zu gelangen, erteilt sie damit konsequenter Weise eine Absage, da man auf diesem Wege nicht zu einer solchen Präskription gelangen kann. Für die subjektiven Motive der Lehrpersonen interessiert sich die Analyse Gruschkas dagegen nicht, sondern nur dafür, welche Ansprüche durch die Logik ihres Handelns objektiv erhoben und wie diese im Prozess des Unterrichtens zur Geltung gebracht werden. Dieser Autor beabsichtigt mithin, durch die Art und Weise, wie er die der Praxis immanente Normativität mit Hilfe pädagogischer Begriffe fasst, diese nicht zu verdoppeln, sondern theoretisch aufzuschließen.
Erscheinen die Herangehensweisen von Hollstein/ Meseth/ Proske und von Gruschka methodologisch schwerlich kompatibel, so sind die Ergebnisse ihrer Analysen dennoch nicht unvereinbar. Bspw. passen die Formen pädagogischer Kommunikation, die das Autorentrio anführt (vgl. S. 73), gut zur Perspektive auf das Unterrichten, welche Gruschka einnimmt, da auch diese das Agieren der Lehrperson fassen. Vergleicht man die genannten Formen mit der Modellierung Gruschkas entlang der Dimensionen Erziehung, Didaktik und Bildung, so fällt es relativ leicht, solche Formen zu finden, die jener der Erziehung („Stützung“, „Führung“, „Disziplinieren“, „Auffordern“) bzw. jener der Didaktik zugehören („Üben“, „Zeigen“, „Darstellen“, „Fordern“, „Bewerten“, „Prüfen“). Die „Hilfe“ könnte beiden Dimensionen zugeschlagen werden. Einschlägig für die Dimension der Bildung erscheint dagegen keine der angeführten Formen pädagogischer Kommunikation.
Nach Gruschka charakterisiert es jedes Unterrichten, dass sich die Lehrperson, in welcher Art und Weise auch immer, auf diese Idee bezieht. Das Moment der Bildung ist zwar nach Hollstein/ Meseth/ Proske weder auf die Lehrperson, noch „auf das lernende Individuum“, sondern „auf den Unterrichtsprozess“ (S. 72, Fn 20) zu beziehen, doch erklärt diese Differenz nicht, dass sich dieses Moment in der Sammlung der Formen der pädagogischen Kommunikation des Unterrichts nicht findet, denn diese Formen sind ja solche der prozessierenden Kommunikation, welche das System „Unterricht“ konstituieren [7]. Und so muss man wohl die Skepsis in einem starken Sinne lesen, die die drei Autoren in ihrer These artikulieren, Bildung sei „allenfalls auf den Unterrichtsprozess als Ganzem bezogen“ zu betrachten (ebd.; Herv. d. V.): Aus ihrer Sicht löst sich die Kategorie der Bildung nicht nur von den Subjekten, sondern erscheint augenscheinlich für Unterricht (in der Form des modernen Massenunterrichts (vgl. S. 72), um den es hier geht) nicht konstitutiv. Dieser Punkt, so meinen wir, wurde in der Diskussion noch nicht hinreichend geklärt (vgl. a. den Beitrag von Reh/ Wilde; Reh 2014).
Diesen Punkt weiter zu klären, erscheint uns besonders deshalb lohnenswert, weil die Konstellationen des Unterrichtens, in die Gruschkas Modellierung mündet, Hinweise auf die Logiken des Kompositums (vgl. S. 73) „Unterricht“ enthalten können: Es liegt nahe, dass sich die von ihm skizzierte „Pädagogik der Stunde“ als „Komposition“ dieses Kompositums verstehen lässt. Wenn diese Idee tragen sollte, erscheint es möglich, auf der Basis des Ansatzes von Hollstein/ Meseth/ Proske ihre Definition des Unterrichts auszufeilen, ohne „in eine ontologische Sackgasse“ (ebd.) zu geraten.
Nach diesem Durchgang durch die versammelten Positionen soll noch einmal resümierend die Frage gestellt werden, ob es der Erziehungswissenschaft möglich ist, Unterricht als Gesamt durch empirische Forschung theoretisch zu erschließen, oder ob wir notwendig nur über je spezifische Zugriffe auf diesen verfügen, die uns verschiedene, unterrichtliche Aspekte verdeutlichen.
Von den AutorInnen dieses Bandes votiert nur Gruschka für eine synthetische Theorie, denn seines Erachtens müsse eine Theorie des Unterrichts auf das „Wesen“ ihres Gegenstandes zielen, müsse ihn als Ganzes erfassen. Angesichts der pädagogischen „Eigenstruktur“ (S. 25) des Unterrichts lasse sich diese Synthese ohne Rückgriff auf die einheimischen Begriffe Erziehung, Didaktik und Bildung nicht bewerkstelligen.
Reh/ Wilde richten sich mit ihren Analysen auf Aspekte des Geschehens „Unterricht“, ohne diese als dessen „Wesen“ zu behaupten. Da die von Reh/ Wilde beschriebenen Praktiken unseres Erachtens Bearbeitungen derjenigen Aufgaben darstellen, die nach Gruschka mit Bezug auf die unterrichtlichen Dimensionen Erziehung, Didaktik und Bildung näher gefasst werden können, sperren sich die Befunde der Autorinnen nicht einer möglichen Synthese. Dennoch erscheinen ihre Thesen hauptsächlich dazu geeignet, das derart Synthetisierte als Fall von etwas Allgemeinerem auszuweisen.
Wie schon erläutert, operieren Tyagunova/ Breidenstein mit einem Theorieverständnis, das sich gegen eine synthetisierende Bestimmung unterrichtlicher Praxen sperrt. Ebenfalls aus der Sicht der diskurstheoretischen Prämissens Krügers kommt es der Erziehungswissenschaft nicht zu, eine solche Synthese vorzunehmen (s. o.). Kiper dagegen stützt sich auf eine synthetische Unterrichtstheorie; diese ist ihres Erachtens aber der Befassung mit empirischem Unterricht vorgängig. Aus ihrer Sicht, so haben wir oben schon dargelegt, ist daher die Vorstellung zu verneinen, die empirische Unterrichtsforschung, sei sie qualitativ oder quantitativ, könne eine umfassende Theorie des Unterrichts erarbeiten.
Auch Hollstein/ Meseth/ Proske erachten die Empirie lediglich als „eine Kontrastfolie, an der die Beschreibung von Unterricht in seinen Grundbegriffen [...] weiter ausgeschärft wird“ (S. 44). Daher legen sie Wert auf die Relevanz der theoretischen Entscheidungen, die sie getroffen haben, bevor sie sich der Empirie zuwenden. Da es sich bei der von ihnen als Rahmen gewählte Systemtheorie um eine Metatheorie handelt, bietet sie sich für eine Synthese an; eine solche erfasste aber den Gegenstand nur in seiner Sozialität, also insofern er anderen Interaktionssystemen vergleichbar ist, sowie in den Momenten, in denen er sich von diesen unterscheidet. Dennoch bliebe sie unseres Erachtens der pädagogischen Qualität dieser Praxis gegenüber solange abstrakt, bis nicht die Logik der „Pädagogizität“ spezifisch bestimmt würde.
Dass nicht alle Mitstreitenden unser Verständnis der Frage „Was ist Unterricht?“ teilen, wäre missverstanden, deutete man es als Ausdruck dessen, dass wir uns im Vorfeld nur mangelhaft über den Gegenstand der Tagung sowie der Publikation verständigt hätten. Vielmehr hängt diese zutage getretene Differenz aufs Engste mit der infrage stehenden Sache zusammen. Daher stellt es sich für uns so dar, dass es die gemeinsame Unternehmung erbracht hat, nicht nur in übersichtlicher Weise Begründungen zu versammeln, mittels derer die Aufgabe, den Begriff des Unterrichts auf dem Wege qualitativ empirischer Forschung zu klären, einerseits zurückgewiesen, andererseits aber auch als notwendige herausgestellt wird, sondern vor allem auch durch die einfache Vergleichbarkeit der Analysen deutlich zu machen, was aus den jeweiligen Verständnissen der Leitfrage für die Erforschung von Unterricht folgt. Festzuhalten bleibt, dass die von den beteiligten AutorInnen verfolgten Ansätze nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Der Band liefert mithin keine einheitliche Antwort auf seine Ausgangsfrage.
- [1] Darüber, ob dieses Verständnis der Frage „Was ist Unterricht?“ sinnvollerweise zugrunde zu legen sei oder nicht, konnten die AutorInnen dieses Beitrages keine Einigkeit erzielen
- [2] Dieses ist für die Mehrheit der AutorInnen ein Protokoll schulischer Empirie, für Krüger dagegen ein Ausschnitt des Diskurses
- [3] Wir stellen dies heraus, um deutlich zu machen, dass die „Startbedingungen“ der Beteiligten sich ggf. dadurch unterscheiden, wie intensiv sie mit dem von ihnen gewählten Vorgehen schon zuvor Zeugnisse unterrichtlicher Wirklichkeit untersucht haben. Denn wir möchten nicht den falschen Eindruck erwecken, wir hielten es für denkbar, mit den Mitteln der qualitativ empirischen Unterrichtsforschung die leitende Fragestellung anhand eines Beispiels erschöpfend zu beantworten. – Dass allerdings zudem zu beachten ist, dass dieses Ziel gar nicht von allen Beteiligten verfolgt wird, wurde bereits dargelegt
- [4] Vgl. bspw.: „der Akt des Schreibens ist dann letztlich eine [...] von ihnen vollzogene Re-Aktion, mit der sie sich selbst subjektivieren“ (S. 110)
- [5] Vgl. dazu Pollmanns 2010, 2014
- [6] In diesem Punkt besteht eine Parallele zwischen dem Ansatz von Reh/ Wilde und jenem von Hollstein/ Meseth/ Proske, denn auch mit ihrem Zugang zu Unterricht erachten sie es als bedeutsam, „dass Lernund Bildungsprozesse nicht kausal bewirkt werden können“ (S. 43)
- [7] Entsprechend verstehen wir es so, dass sich auch die erziehenden bzw. didaktischen Formen der pädagogischen Kommunikation „auf den Unterrichtsprozess“ beziehen